Bahn schule – Der Professor für Psychiatrie und Philosophie
Von Arhan Kardaş
Es ist Adventszeit und ich fahre für einen Vortrag über Menschenrechte von Berlin nach Tuttlingen. Ich reserviere einen Platz im Großraum am Tisch, weil ich so bequem an meinem Computer arbeiten kann. Mir gegenüber sitzen zwei Herren, der eine ist fast eingeschlafen, der andere sieht mir dagegen neugierig zu und lächelt mich an. Solche auffälligen Goldzähne sehe ich zum ersten Mal bei einem Deutschen.
Später stellt sich heraus, dass er ein Bauarbeiter von 61 Jahren ist und aufgrund einer Krankheit eine Reha besuchen muss. Er beschwert sich über seine gesundheitliche Lage und über die Rentenkasse, die immer noch nicht an seine Arbeitsunfähigkeit glaubt, obwohl er an beiden Knien operiert worden sei und unter schwere Schulterschmerzen leide. Seine besten Jahre habe er in Russland verbracht, wo er zwar 10 Stunden am Tag arbeiten musste, aber trotzdem die Zeit genoss.
Ich dachte mir schon, dass die Goldzähne irgendetwas mit Russland oder mit Zentralasien zu tun haben mussten. Goldzähne sind nicht der Geschmack im Lichterland. Dann erzählt er mir, dass er seit zehn Jahren nicht Zug gefahren sei. Ich sage ihm, dass er die dritte Person ist, der ich während meiner Reise begegnet bin, die zehn Jahre nicht mehr Zug gefahren ist. Die anderen zwei waren ein Paar. Ehrlich gesagt kann ich es mir nicht vorstellen, wie man 10 Jahre in Deutschland nicht Zug fährt. Der Mann hat lediglich zwei Jahre bis zur Rente, auf die er sich aber nicht freut. Er lobt das Rentensystem in Österreich und in der Schweiz.
Dann gehe ich wie üblich zum Restaurant einen Kaffee kaufen, und der Zug hält in Erfurt. Als ich zu meinem Platz zurückkomme, sehe ich einen älteren Herrn auf meinem Platz sitzen. Ich mache ihm klar, dass dies mein Platz ist. Er sagt, dass er es weiß, jedoch stehen meine Sachen auf seinem Platz, den er reserviert hat. Ich entschuldige mich, mache ihm den Fensterplatz frei und sitze wie üblich auf dem Platz am Gang. Kurz darauf fangen wir beide an, an unseren Rechnern zu arbeiten, ich verbessere meine Präsentation für den Abend, er antwortet auf seine E-Mails. Meine Augen tun mir weh, weshalb ich eigentlich nicht so viel am Bildschirm sitzen will. Aufgrund meiner intensiven Arbeit werden die Linsen trocken. Ich merke sofort, dass er ein Akademiker ist wie ich, und arbeite, ohne ihm besondere Beachtung zu schenken, an meiner Präsentation weiter.
In einer Pause frage ich ihn, ob er Professor ist, was er mit Ja beantwortet, und ich merke schon, dass er heimlich meine Präsentation mitliest. Das macht ja nichts. Er sagt, er ist Professor für Psychiatrie und Philosophie an einer weltberühmten Uni. Als der Bauarbeiter mir gegenüber das hört, sagt er ihm, dass er psychisch krank sei, an jährlichen Treffen von Professoren der Psychiatrie teilnehme, aber niemand in der Lage sei, seine Krankheit zu heilen. Er sagt, dass er über 40 Jahre immer pünktlich und fleißig gearbeitet hat und sich fragt, warum er nun diese Schmerzen erleiden muss. Was habe er falsch gemacht?
Professor Mustermann versucht ihm klarzumachen, dass diese Frage falsch sei. Er solle sich eher auf die Heilung seiner Krankheit konzentrieren, statt sich Vorwürfe zu machen. Seine Antworten überzeugen den Mann nicht. Er will noch weitere Antworten bekommen. Vergebens. Er sagt sich, es wird schon … es wird schon …
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