Zustand und Rangstufe aus spiritueller Perspektive
M. Fethullah Gülen
Hal bedeutet „spiritueller Zustand“ und meint zugleich, dass der Mensch in seinen inneren Tiefen von jenseitigen Winden getragen lebt. Hal bedeutet, am Horizont seines Herzens die feinen Wechsel von Tag und Nacht, Morgen und Abend wahrnehmen und empfinden zu können.
Spiritueller Zustand (hal) bedeutet, dass unser Herz ohne Mühe und Anstrengung von Freude und Trauer oder Verengung und Erweiterung erfasst wird. Die dauerhafte Beständigkeit und das Fortbestehen dieses inneren Fühlens werden als spirituelle Rangstufe (maqām) bezeichnet, während sein Entschwinden damit gleichgesetzt wird, dem Diktir-Nefs zu verfallen (nefsânîlik).
In diesem Zusammenhang kann der spirituelle Zustand (hal) als eine göttliche Gabe und als sanfte Brise göttlicher Nähe (uns) verstanden werden, die die Hügel des Herzens streift. Die spirituelle Rangstufe hingegen bezeichnet das Erreichen einer zweiten Natur, die hervorkommt, wenn der Mensch durch Willenskraft und Entschlossenheit diese göttlichen Gaben in sich aufnimmt und sie seinem Wesen einverleibt.
Der spirituelle Zustand deutet unmittelbar1 auf die wahre Quelle von allem hin, ähnlich wie die Schöpfung (khalq), das Leben (hayat), das Licht (nur) und die Barmherzigkeit (rahme). Er erinnert an die Einheit Gottes in reinster Form (tewhid), bringt den Menschen in eine ständige innere, spirituelle Spannung und führt zu alternativen Erkundungen.
Die spirituelle Rangstufe (maqām) zeigt durch das vernebelte und rauchige Prisma eigenen Strebens und Bemühens, was erkannt werden kann. Sie spiegelt die Essenz der Wahrheit (haqiqa) wieder, je nach Kapazität des persönlichen Throns seiner Vervollkommnungsreise (seyr we suluk) [den der Mensch bis zu dem jeweiligen Zeitpunkt erreicht hat].
Daher wird es als weitaus wertschätzender erachtet, die ins Herz fließenden göttlichen Gunszuströme (waridat) intuitiv wahrzunehmen und in jedem Augenblick einen neuen Weg zu dem im Herzen erkannten „Verborgenen“ (kenz) einzuschlagen, anstatt sie gemäß unserer eigenen emotionalen Färbung auszulegen. Denn dabei schwingt stets ein Hauch von Selbstdarstellung mit.
Deshalb verwies der Ehrenwerte Treue (Sadiq) und als wahrhaftig Bestätigte (Masduq) bei einer Begebenheit auf Folgendes: „Gott schaut nicht auf eure Körper und euer Aussehen, sondern auf eure Herzen“2 und richtete damit die Aufmerksamkeit der Menschen darauf, was Gott wirklich wertschätzt, indem er das Herz als Ziel der Hinwendung hervorhob. Damit will der Prophet den spirituellen Spiegel des Herzens in Richtung der erhabenen Widerspiegelung Gottes lenken.3
In einer weiteren Überlieferung, deren Authentizität als geringer eingestuft wird, wird neben dem Herzen auch das Handeln erwähnt: „Gott schaut auf eure Herzen und eure Taten“4 – ein Ausdruck der Würdigung der spirituellen Rangstufe (maqām), die durch die Aufrechterhaltung des Zustands um des Zustands willen erreicht wurde.
Der spirituelle Zustand offenbart sich, durch zeitweise erscheinende Manifestationen, in Momenten, die dem Wunsch der absoluten göttlichen Willenskraft entsprechen. Das Gebiet der Manifestationen ist der Horizont des Herzens. Die Gefühle (his) und das Bewusstsein (schu’ur) sind jene Mechanismen, die diese Manifestationen und Gunstzuströme einfangen und sie in eine Form gießen.
In diesem Sinne wird die spirituelle Rangstufe (maqām) als eine stabilisierte und beruhigte Stufe betrachtet, deren Wellen sich gelegt haben, während der spirituelle Zustand (hal) einem ständig schwankenden Netz von Hoch- und Tiefpunkten unterliegt, die von höheren Bestimmungen abhängen. Jede neue innere Erscheinung unterscheidet sich von der vorherigen und zeigt sich in immer neuen, variierenden Bildern. Er gleicht Energiepaketen elektromagnetischer Wellen (Photonen), die von der Sonne ausgestrahlt werden und in unterschiedlichen Wellenlängen und Farben in Erscheinung treten, bis sie absorbiert oder gestreut werden.
Feinsinnige Seelen und für Erkenntnis erwachte Bewusstseine nehmen die Schwankungen des spirituellen Zustandes in den Tiefen des Herzens so wahr, wie sie die Spiegelungen der Sonne in den Blasen auf der Wasseroberfläche sehen. Sie reagieren mit jeweils unterschiedlichen Auffassungen darauf.
Herzen, die das innere Gleichgewicht verloren haben und dadurch zu abgeschnittenen Seelen geworden sind, mögen dies als Einbildung (vehm) oder Fantasie (khayal) abtun; doch für jene, die im Lichte Gottes sehen, ist dies die deutlichste aller Wirklichkeiten.
Der größte Held der spirituellen Zustände betrachtete jeden zuvor erfahrenen Zustand angesichts der nachfolgenden Stufe als unzureichend – möge Gott unsere Herzen mit dem Licht dieser „unzureichenden“ Zustände erleuchten! – und sprach: „Ich bitte Gott siebzigmal am Tag um Vergebung.“5
Ohnehin kann ein reines Herz gar nicht anders denken … das Herz, das sich auf einer unendlichen Reise zu dem Grenzenlosen (namutenahi) befindet und auf diesem ewig währenden Weg die Sehnsucht nach ewigem Licht und einem ewigen Buraq (einem lichtartigen Reittier) verspürt.
O Gott,
Du allmächtiger Wandelnder der Zeit, Macht und der Zustände,
wandle unseren Zustand zum besten Zustand!
Und segne und schenke Frieden unserem geehrten Propheten Muhammed,
dem Auserwählten!
Sızıntı, Oktober 1990, Band 12, Nummer 141
Anmerkungen
Den Großmeistern Nursi und Gülen zufolge sind die Ersterschaffung, das Leben, die Barmherzigkeit und das Licht Argumente für die Existenz Gottes, ohne den Schleier der Ursächlichkeit. Also ohne dass dazwischen eine weitere materielle Ursache benötigt wird.
Müslim, birr 33.
Denn das Herz als spirituelle Gebetsnische ist sowohl als Manifestationsort der göttlichen Namen als auch als Ziel für die Gläubigen während ihrer Gottesdienste zu verstehen. An dem Ort, wo die Reinheit der Absicht praktiziert wird.
Müslim, birr 34; İbn Mâce, zühd 9; Ahmed b. Hanbel, Müsned 2/285, 539.
Tirmizî, tefsîru sûre (47); İbn Mâce, edeb 57.