Der Geist der edelmütigen Jugend
Fethullah Gülen
Mit dem Geist der edelmütigen Jugend bewahren Gesellschaften ihre Lebendigkeit, entwickeln sich weiter und erreichen ihren Glanzpunkt. Wenn sie diesen Geist verlieren, verwelken sie wie Blumen mit abgeschnittenen Kapillaren, zerfallen und werden schließlich achtlos zertreten.
In den Jahren der Jugend und der Schulzeit verspürt nahezu jeder junge Mensch einen tiefen Drang, seiner Heimat zu dienen und sie zu lieben. Er spricht von der Heilung der Wunden der Gesellschaft, davon, dieses Land und seine Mitmenschen voranzubringen, und wütet voller Leidenschaft gegen Gefühllosigkeit und Untätigkeit.
Doch viele dieser jungen Menschen, die von solchen Idealen erfüllt sind, können erleben, dass die Funken in ihnen allmählich zu erlöschen beginnen, sobald sie eine Verwaltungsposition oder Anstellung finden. In ihrer Seele kann sich eine Schicht aus Asche ausbreiten und in ihren Herzen eine Wüste entstehen lassen.
Wandel der Ideale zur Verwahrlosung
Später, völlig von einem körperlichen und materiellen Lebensstil vereinnahmt, könnte sich ein solcher junger Mensch mehr und mehr von seinen hohen Idealen distanzieren, an die er einst voller Hingabe geglaubt und die er verteidigt hat, und so könnten niedere Triebe und eigennützige Interessen von ihm Besitz ergreifen.
Einmal in diesen seltsamen und vereinnahmenden Kreislauf geraten, wird eine Umkehr nahezu unmöglich, es sei denn, eine himmlische Gnade greift ein.
Am Ende wird er unumkehrbar zum Sklaven jener Dinge, die er einst mit feurigen Worten verdammte.
Dieser Prozess geht so weit, dass er sich sogar an den Mahnungen seines eigenen Gewissens bezüglich seiner Pflichten und Verantwortungen stört.
Von diesem Punkt an nutzt er all seine intellektuellen Fähigkeiten dafür, seine Position zu sichern und die Anerkennung seiner Vorgesetzten zu erlangen – Ziele, die die menschliche Seele oft erniedrigen. So wird er zunehmend verwahrlost.
Sollte seine Position ihm auch noch Aufstiegschancen bieten, verliert er endgültig die Fähigkeit, irgendetwas anderes wahrzunehmen. Um seinen „Götzen“ – seine Position – zu behalten, lässt er jede Art von Erniedrigung über sich ergehen.
Notfalls geht er sogar auf das ein, was seinem Gewissen und Glauben widerspricht. Er beugt sich vor jedem, von dem er sich Vorteile erhofft, und ändert seine Meinung über Nacht: Wofür er gestern noch einstand, ist heute bedeutungslos. Personen, die er einen Tag zuvor noch in den Himmel lobte, verunglimpft er am nächsten Tag ohne Bedenken.
Besonders sein eigennützig-vorteilsorientierter Umgang mit anderen und das gekünstelte Lob, das er von anderen erhält, erschüttern seine ohnehin verwundete Seele und geschwächte Willenskraft so sehr, dass er fortan nichts mehr im Sinne des Guten und Tugendhaften zu leisten vermag.
Tragisch ist, dass er trotz seiner verkümmerten Gefühle, seines abgestumpften Verstands und seiner begrenzten Weitsicht immer noch glaubt, derjenige zu sein, der am besten denkt, die treffendsten Entscheidungen fällt und die nützlichsten Dinge vollbringt.
Es ist äußerst schwierig, jemandem in diesem Geisteszustand seine Fehler vor Augen zu führen oder ihn zu warnen.
Diese selbstverliebten Seelen hegen meist eine heimliche Abneigung und einen Groll gegen jeden, der ihnen ihre Fehler aufzeigt. Sie kleiden selbst ihre größten Irrtümer in ein Gewand der Wohltat und sehen sich stets im Recht, sodass sie keinen Rat von anderen annehmen wollen.
Schutz vor Werteverlust und einer Verweltlichung
Ja, jeder Mensch hat gewisse Schwächen, und es ist in gewisser Weise natürlich, dass diese gebunden an Umstände, Klima und Umgebung plötzlich zum Vorschein kommen.
Dennoch ist es möglich, Vorkehrungen zu treffen, um zu verhindern, dass die Seele in diesem Strudel der Mängel untergeht.
Ich bin der Ansicht, je tiefer folgende Werte in den Herzen der Jugendlichen verwurzelt sind, desto weniger laufen sie Gefahr, in seelische und geistige Verwirrung zu geraten, und können innere Stärke wahren.
Wenn in jedem jungen Menschen ein fester Glaube, ein starkes Gefühl der Selbstlosigkeit und eine beständige Verbundenheit mit Gesellschaft und Heimat geweckt werden können …
Wenn man Tag und Nacht mit Überzeugung und Entschlossenheit gemeinsam für unser segensreiches Ideal wirken kann …
Wenn unverantwortliche Herzen gegen die Wünsche, das Leben nur zum Vergnügen zu genießen, gestärkt werden und Wert auf Tugenden wie Würde und Ehrenhaftigkeit gelegt wird …
Wenn in ihren Köpfen und Herzen die reflektierte Überzeugung gefestigt wird, dass jedes Anliegen und jede Beschäftigung, die hinsichtlich unseres segensreichen Ideals nicht als Dienst für Gesellschaft und Land zu verstehen sind, eine Zeitverschwendung darstellen könnte und dass es undankbar gegenüber der Zeit ist, sich mit belanglosen Dingen zu beschäftigen, da diese als Segensgeschenk zu betrachten ist.
Wenn wir uns im Gegenteil von Dingen wie Statusverfangenheit, Ruhmsucht, Lebensängsten und Habsucht leiten lassen – Gefühlen, die unsere innere Welt verdunkeln –, werden wir zusehen müssen, wie die Sterne unserer Hoffnungssphäre nach und nach verblassen und wir vor innerem Schmerz gebeugt werden.