Ist das eine Spinne, die auf einem Ballon reitet?

Von Prof. Dr. İrfan Yılmaz

Im Jahr 1832 beobachtete Charles Darwin 100 km vor der argentinischen Küste zahlreiche winzige, 2 bis 3 Millimeter große purpurfarbene Spinnen, die sich mit dem Seewind an den Tauen und Segeln der HMS Beagle festhielten, dem Schiff, mit dem er die Welt umrundete. Er fragte sich, wie es möglich war, dass so viele Spinnen als Gruppe ein Schiff erreichten, das sehr weit vom Land entfernt war. Darwin erkannte, dass diese Insekten, die an Land lebten und keine sichtbaren Flügel hatten, in der Lage waren, winzige, aber extrem starke Seidenfäden als Segel oder Ballons zu benutzen, um mit dem Wind zu gleiten.

Diese winzigen Insekten konnten auf diese Weise bis zu einer Höhe von etwa 4.000 m fliegen. Die chemischen Prozesse bei der Herstellung der Seidenfäden, die für das Auge kaum sichtbar, aber stärker als Stahl sind, sind ein Rätsel. Während wir mit all unserer Technologie noch nicht in der Lage sind, solche hochentwickelten Fäden herzustellen, können die 45.000 bis 50.000 Spinnenarten, die der Menschheit bekannt sind, solche Fäden mit unterschiedlichen Eigenschaften entsprechend ihrer Ernährungs-, Bewegungs- und Fortpflanzungsweise seit dem Tag ihrer Entstehung problemlos produzieren. Sie verwenden diese Fäden, um ihre Fallen für die Jagd aufzustellen, ihre Nester zu bauen oder sich in der Luft hängend fortzubewegen. Diese vielfältigen Seidenfäden werden aus Aminosäuren in einem speziellen „Seidenlabor“ im Unterleib der Spinnen synthetisiert.

Um neue Lebensräume zu finden, klettern diese winzigen Spinnen nach oben, bis sie die oberste Spitze eines Zweiges oder Blattes erreichen, und werfen dann einen seidenen Faden wie ein Drachen in Richtung des Windes ab, um schließlich abzuheben. Sie klammern sich an diesen Fäden fest und beginnen, durch die Luft zu gleiten, als ob sie Wasserski oder Paragliding betreiben würden. Auf diese Weise können sie Hunderte von Kilometern zurücklegen und je nach Luftströmung eine Höhe von 500 m oder sogar 4.000 m erreichen. Die weit verbreitete Erklärung ist, dass die Zug- oder Auftriebskraft des Windes der an solchen Fäden befestigten Spinne helfen kann, in die Luft zu steigen. Die bestehenden aerodynamischen Modelle erklären jedoch die Mechanismen der Ballonfahrt nicht vollständig.1 Ein anderes vorgeschlagenes Modell verwendet elektrische Ladungen in der Atmosphäre, um das Ballonfahren zu erklären.2

Der wundersame Faden, der Strom sammelt

Erstaunlicherweise hat man herausgefunden, dass Spinnen über die Fähigkeit verfügen, elektrische Felder zu erkennen und einen Faden zu produzieren, der durch elektrische Felder aufgeladen wird und ähnlich wie eine Batterie funktioniert. Den Forschungen zufolge produziert die Spinne mit ihren empfindlichen Rezeptoren die speziellen Fäden, die für den Ballon-Effekt geeignet sind. Mit ihren mechanosensorischen Haaren kann die Spinne auch die Windrichtung und -stärke bestimmen, und schließlich wird eine elektrische Antriebskraft erzeugt, die für den Ballonflug ausreicht.3

In diesem Fall sind sich die Physiker uneinig darüber, welche Antriebskraft auf den Seidenfaden wirkt: der durch den Wind verursachte aerodynamische Widerstand oder die elektrostatische Kraft der Atmosphäre. Auf der Grundlage von Darwins Beobachtungen und Schätzungen wurde die für die Ballonfahrt erforderliche physikalische Kraft seither dem aerodynamischen Widerstand bei Windgeschwindigkeiten von weniger als drei Metern pro Sekunde zugeschrieben, aber das Ausmaß, in dem elektrostatische Kräfte zur Ballonfahrt beitragen, wurde nie untersucht.

Wenn nur der Luftwiderstand zur Erklärung der Ballonfahrt herangezogen wird, ergeben sich mehrere Probleme. Bei einigen Arten breitet die Spinne beispielsweise mehrere Seidenfäden aus und klebt sie zusammen, um einen Fächer oder ein Netz zu bilden, das wie ein Ballon funktioniert. Bei einigen anderen Spinnenarten wird beobachtet, dass sie sich an einzelnen Seidenfäden festhalten, um sich bei leichtem Wind fortzubewegen. Durch die Wirkung einer elektrostatischen Kraft werden diese Fäden abgestoßen, sodass sie nicht aneinander haften. Es stellt sich auch die Frage, wie Spinnen trotz geringer Windgeschwindigkeiten Seidenfäden für den Ballonflug mit hoher Geschwindigkeit abwerfen können.

Untersucht man den Mechanismus der Seidenproduktion, so stellt man fest, dass eine äußere Kraft erforderlich ist, um den Faden während der Produktion aus den Poren der Drüse herauszuziehen. Wie wird in diesem Fall die hohe Beschleunigung, die für den anfänglichen Abzug erforderlich ist, bei geringen Windgeschwindigkeiten erreicht? Trotz Berichten, wonach thermische Luftströmungen und Temperaturunterschiede an heißen Tagen als treibende Kraft wirken, wurde Ballonfahren auch an bewölkten und regnerischen Tagen beobachtet. Es wurden Modelle erstellt, die alle Bedingungen wie Luftfeuchtigkeit, Temperatur und Windgeschwindigkeit berücksichtigen, aber es gibt immer noch Fragen, die geklärt werden müssen.

Ist die Spinne in Physik bewandert?

Dass elektrostatische Kräfte beim Abheben von Spinnen eine Rolle spielen, wurde zwar vermutet, aber bisher noch nicht getestet. Experimente, die von Wissenschaftlern der Universität Bristol durchgeführt wurden, bestätigten schließlich, dass Spinnen sowohl elektrische Felder erkennen als auch nutzen, um sich in die Luft zu erheben.4 Wenn sie einen geeigneten Wind spüren, klettern die Spinnen auf die Spitze eines Blattes, wo die elektrische Ladung am höchsten ist. Dann richten sie ihre Beine auf, heben ihren Hinterleib nach oben und beginnen, den Seidenfaden zu spannen. Sobald der Faden eine ausreichende Länge erreicht hat, beginnt die elektrische Ladung der Atmosphäre zu ziehen. Die entgegenwirkende Kraft der Erde beginnt, den nichtleitenden Faden zu schieben, und veranlasst so die Spinnen zum Abheben.

Elektrisches Feld

Die Verteilung des elektrischen Feldes in der Atmosphäre steht im Zusammenhang mit einer Reihe von biologischen Systemen. Hummeln zum Beispiel können die elektrischen Felder zwischen sich und den Blumen erkennen. Honigbienen können elektrische Ladungen nutzen, um innerhalb ihres Bienenstocks zu kommunizieren. Wie verbreitet ist die Fähigkeit, elektrostatische Kräfte zu erkennen und zu nutzen, bei den an Land lebenden Organismen? Die von Spinnen produzierte Seide ist als starker Isolator bekannt; Michael Faraday nutzte sie für die ersten Messungen der elektrostatischen Ladung und stellte fest, dass diese Seide eine negative Nettoladung aufnimmt.

Die nächste Frage ist, wie diese elektrischen Felder entstehen. Die Erde ist mit negativer elektrischer Ladung und die oberen Teile der Atmosphäre mit positiver Ladung aufgeladen, was auf die Tausenden von Stürmen zurückzuführen ist, die jeden Tag auftreten. Dieses atmosphärische Spannungsgefälle zwischen der Erde und dem Himmel besteht auch an sonnigen Tagen, wenn auch in geringerem Maße als an stürmischen. Dieses Ereignis kann kaum als einfacher Spinnenflug abgetan werden, denn es steckt mehr dahinter, als man denkt.

Wissenschaftler haben herausgefunden, dass eine Spinne elektrostatische Kräfte wahrnehmen und feststellen kann, ob die Bedingungen für den Start geeignet sind, und dass sie sogar ihre Flughöhe während des Flugs steuern kann, und zwar dank der speziellen Rezeptorhaare an ihren Beinen (Trichobothrien). Die Mechanismen zur Einstellung von Dicke und Länge des Fadens durch das Öffnen und Schließen der Seidenspinndüsen, die Aufbereitung des Aminosäuregemischs in der richtigen Reihenfolge und die Freisetzung des zunächst flüssigen, aber bei Luftkontakt aushärtenden Gemischs sind so komplex, dass sie selbst in modernen Produktionsanlagen für Nylongarne nicht zu finden sind.

Dutzende von Parametern – z. B. Zeitpunkt, Menge, Reihenfolge – müssen erfüllt sein, damit Spinnen mit einem fallschirm- oder segelähnlichen System durch die Luft fliegen können. Das tun sie so, als wären sie speziell dafür ausgebildet. In all diesen Aktivitäten stecken so viel Wissen, Können, Wille und weise Absicht, dass sie nicht dem Zufall zugeschrieben werden können. 

Anmerkungen

Humphrey J. A. C. (1987): „Fluid mechanic constraints on spider ballooning“, in: Oecologia, 73: 469–477.

Gorham, P. W. (2013): „Ballooning spiders: the case for electrostatic flight“, in: Archiv, archiv:1309.4731v, arxiv.org/abs/1309.4731.

Morley, E. L. and Robert, D. (2018): „Electric Fields Elicit Ballooning in Spiders“, in: Curr Biol. 28(14): 2324–2330.e2.

Ibid.

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