Die intellektuelle Tschille
Von Fethullah Gülen
Heutzutage sucht fast jeder nach Formeln für die glorreichen Werke der Zukunft. Auf diesem Wege werden wir unser Plektrum erneut für besorgte Herzen ansetzen und mit dem Aufschrei „Tschille der Gedanken!“1 hallen lassen.
Ganz gleich, welche Wirkung unsere Anregungen auf sorglose Herzen, schmerzfreie Köpfe und in Bequemlichkeit verhaftete Seelen haben mag.
Streben nach spiritueller Vervollkommnung
Wir glauben fest daran, dass wahres Glück für unsere Menschen nur erreicht werden kann, indem man sich den klaren Gedanken jener hingibt, die im Tschille der Gedanken gereift und deren Herzen in Risse zerfurcht sind.2
Diese sorgenvollen, aber kristallklaren Herzen, die die ganze Schöpfung Tag für Tag in ihrem Geist Faden für Faden auflösen, um es dann in farbenfrohe Stickereien zu verwandeln und zur Schau zu stellen, werden unermüdlich wie Bienen in alle Richtungen aufbrechen. Sie werden auf den Blättern der Blumen Thronsitze der Liebe errichten und ihnen leise die Idee zuflüstern, zu Honig zu werden.
Mit Mühsal werden sie voranschreiten, mal flattern sie mit Flügeln, und immer tragen sie Sorge im Herzen, während ihre Schläfen wegen des intellektuellen Tschilles pochen. Wochen ohne Schlaf, Monate ohne Ruhe und Jahre ohne Rast werden an ihnen vorüberziehen, ohne dass sie es bemerken.
Der Webstuhl des Denkens zwischen Materie und göttlicher Wahrheit
Wie in der Lehre des Großmeisters Mewlana bleiben sie [in ihrem Geiste] stets wie ein Zirkel: mit einem Bein fest in der Welt der Menschen verankert, mit dem anderen stets mit Gott.
In jedem Moment werden sie durch die Werke, die Gott ihnen vor Augen führt, in Begeisterung versetzt, wieder und wieder spannen sie sich [wie ein Bogen] und treten dann [durch die Gottesdienste] in [voller Konzentration] in seine Gegenwart ein.
Danach kehren sie, völlig erfüllt und beflügelt durch unaussprechliche spirituelle Freuden, in die Gesellschaft zurück, mit dem tiefen Bewusstsein ihrer Pflicht.
Heilige Flüsterer der Unendlichkeit
Diese Gemeinschaft der Heiligen bewegt mehrmals täglich den Webstuhl des Denkens zwischen den Welten der Materie und des Geistes. Dabei fügen diese Scharen von Heiligen dem feinen Herzensgewebe ihres Geistes neue Farben und Dimensionen hinzu. Durch sie werden unsere verkommenen Gedanken, die sich in unseren Köpfen eingenistet haben, befreit, und unsere vermoosten Herzen gereinigt und wir erinnern uns wieder an unsere Menschlichkeit.
Diese Heiligen, deren Fenster und Türen, stets zur Unendlichkeit hin geöffnet und mit ihr verwoben sind, lauschen den Vögeln, wimmern mit den Bäumen, lesen die Sterne und schütten ihre Herzen den Meeren aus.
Mit Botschaften, die sie von den wehenden Winden, dem fallenden Regen, den fliegenden Vögeln und den fallenden Blättern erlauschen, sprechen sie in ihren Herzen mit dem Wahrhaften Einen.
Diese Heiligen der Gegenwart Gottes rufen aus: ‚Dies ist der Weg!‘ Wie ein wildes Ross, das endlich seinen Reiter gefunden hat, rennen sie bis zur völligen Erschöpfung; und wie Lastenträger inmitten der Menschen nehmen sie die Bürde des gesellschaftlichen Kummers auf sich.
Sanft und barmherzig wie heilende Ärzte tragen sie die Sorgen und Schmerzen der Menschen in ihren Herzen.
Die Menschen der Hingabe
Sie sind Menschen der Hingabe, die durch den Schmerz und das Leid anderer Erfüllung und Glückseligkeit im Mitgefühl finden.
In dieser unermesslich weiten Leere des Raumes, dessen Anfang und Ende unerfassbar sind, umarmen das Licht der Blitze, das Donnern des Gewitters, die farbenfrohen Spielereien der Sonne und die sanfte Schönheit der Luft die Gedanken der Menschen der Hingabe. Der Frühling mit seinen Blumen und der Sommer mit seinen reifen Früchten werden für sie zu einem Festmahl der Reflexion.
Wenn sie fühlen und erspüren, wenn sie kosten und erkennen, sehen sie die Spuren des Schönsten aller Schönen und erbeben bei seinem Flüstern.
In den Horizonten ihres Denkens, die zur Gotteserkenntnis führen, flüstert die Ordnung in einer eigenen Sprache, das Licht tanzt in inniger Umarmung mit den Farben, und die Seele wird wie ein Schmetterling, der um diese spirituelle Zusammenkunft flattert.
Manchmal werden die Sterne zu Staub unter ihren Füßen, und der Staub unter ihren Füßen wird zu kosmischem Nebel. In den ewigen paradiesischen Gärten ihrer Herzen, die sie aufgebaut und gepflegt haben, erlischt weder ihre Liebe und Begeisterung noch kehren sie jemals um, trotz all der Prüfungen und Mühen, die sie auf sich nehmen.
Jeden Morgen gehen diese Menschen der Hingabe mit neuer Hoffnung und frischer Begeisterung zusammen mit der Sonne am Horizont auf und flüstern uns Botschaften aus fernen Welten zu.
Heute wartet die ganze Welt sehnsüchtig auf den Zug jener Heiligen, die das Leben in all seinen Schönheiten verstanden haben und in der Geduld und Stille einer Koralle die Wahrheit in ihren Seelen heranreifen ließen. Sie sind vom brennenden Verlangen erfüllt, diese Wahrheit in jede Ecke der Welt zu tragen.
Diese Menschen werden niemals der Verlockung von Ruhm und Ansehen erliegen; sie bleiben immer als ein Symbol für Wahrhaftigkeit, Vertrauenswürdigkeit, Pflichtbewusstsein, Rationalität und Tugend- und Schamhaftigkeit.
Sie werden ihre Fehler erkennen und sich in Reue winden, während sie gegenüber anderen das vom Schöpfer gewährte Maß an Nachsicht und Barmherzigkeit zeigen, bis zur äußersten Grenze ausschöpfen.
Anstelle von materiellem Reichtum werden diese Menschen der Hingabe die Würde des Ideals und der Philosophie bewahren, anstelle von persönlichem Vorteil die Wahrheit, und statt unnötiger Prahlerei werden sie Bescheidenheit wahren. Statt Gewalt, Zorn und Wut werden sie Sanftmut und Verständnis schützen.
Ihre Talente und Fähigkeiten werden sie zuerst in den Dienst ihrer eigenen Welt und dann in den Dienst der gesamten Menschheit stellen, damit auch sie das wahre Leben erreicht und dorthin steigt.
Von der inneren Suche zur kollektiven Findung
In ihrem Geist wird es keinen Platz für Lügen und Täuschung geben; sie werden Stolz und Egoismus meiden, so wie sie vor Giftschlangen und Skorpionen fliehen würden.
Während sie würdevoll in Richtung ihrer zuvor festgelegten hohen Ideale und wohlüberlegten Ziele voranschreiten, sehen sie Hindernisse als eine Chance, um an innerer Stärke zu gewinnen. Dabei verfallen sie weder in Groll noch in Enttäuschung.
Und eines Tages, an dem Punkt, an dem sie ihre Selbstsucht und ihr Ego überwunden haben, wird der Jubel der kommenden Generationen, die den Frühling feiern, zu hören sein.
Anmerkungen
Der türkische Originaltitel „Fikir Çilesi“ wurde hier mit „Die intellektuelle Tschille“ ins Deutsche übersetzt, was auf Fethullah Gülens Konzept des denkenden Herzen zurückzuführen ist. Gülen sieht das Herz gemeinsam mit dem Verstand als Quelle höchster geistiger Erkenntnis. Während das rationale Denken nur auf die materielle Welt begrenzt ist, betrachtet Gülen das denkende Herz als eine umfassendere Form des Verstehens und des Erfassens, die sowohl die Materie als auch das Metaphysische umfasst. Diese Sichtweise kann im Zusammenhang mit Koranversen wie Hadsch (22:46) und Araf (7:179) verstanden werden.
In Hadsch (22:46) wird das Herz als Organ des Verstehens beschrieben, das wahre Einsicht ermöglicht, während in Araf (7:179) betont wird, dass diejenigen, die nicht mit dem Herzen denken, die spirituelle Wahrheit verfehlen.
Weitere relevante Verse, die dieses Thema aufgreifen, sind Al-Baqara (2:171), At-Tawba (9:87), Yunus (10:42 – 43), Al-Munafiqun (63:3) und Al-Anfal (8:22). Diese Stellen thematisieren die geistige Blindheit und das Versagen des Herzens, die Zeichen Gottes zu erkennen.
Gülen versteht das hohe Denken als eine geistige und spirituelle Auseinandersetzung, bei der das Herz gemeinsam mit dem Verstand als Schlüssel zur Weisheit dient. Die „intellektuelle Qual“ beschreibt den notwendigen inneren Kampf, der erforderlich ist, um diese tiefere Ebene des Denkens zu erreichen. Dieses Konzept sollte nicht mit der subjektiven Einsicht des Herzens verwechselt werden, die als Ilham bezeichnet wird. (Siehe auch in Hügel des Herzens: Aql, Ilham, Tschille.)
„Herzen in Risse zerfurcht” bezieht sich auf eine Metapher in der Einleitung von Mewlana Rumis Werk Methnewi.