Chancen in der Corona-Krise – ein Appell zur Selbstreflexion
Von Mustafa Üyrüs
Die Aussage, dass in jeder Krise eine Chance steckt, ist eine altbekannte Weisheit aus dem Bereich der Wirtschaft. Sie drückt oftmals eher eine Hoffnung aus als eine objektive Erkenntnis. Doch lässt sich diese Hoffnung auch auf gesundheitliche Krisen wie die aktuelle Corona-Epidemie übertragen? Dieser Gedanke mag zugegebenermaßen zunächst etwas zynisch erscheinen. Es wäre jedoch hilfreich, für einen Moment auf die vergangenen Wochen und Monate zurückzublicken, um mögliche Chancen in dieser Krisenzeit zu erkennen.
Unsere Wohlstandsgesellschaft bietet uns in vielerlei Hinsicht einen Überfluss sowie endlose Alternativen, die aus unserem täglichen Leben kaum wegzudenken sind. Für den Großteil unserer Gesellschaft geht es oftmals nicht um das Ob, sondern um das Was. Nicht ob wir etwas zu essen bekommen, ist die Frage, der wir mehrmals am Tag begegnen, sondern was oder wo wir essen. Oftmals geht es nicht darum, ob wir in den Urlaub fliegen, sondern darum, wohin wir fliegen und wie lange wir Urlaub machen.
Doch in Zeiten von Corona wurde die Selbstverständlichkeit dieser Fragen in Frage gestellt. Wir kamen erstmals seit der Nachkriegszeit wieder mit dem Ob in Berührung. Erinnern wir uns an die ersten Tage nach den bundesweiten Ausgangsbeschränkungen: Viele Menschen hatten Angst, ob sie in den nächsten Tagen genug zu essen haben würden. Infolgedessen kam es vielerorts zu Panikeinkäufen. Ein neuer Begriff fand Einzug in unseren Sprachgebrauch: Hamsterkäufe. Sehr bald kam seitens der Politik und Wirtschaft die Entwarnung, dass wir uns um Lebensmittel- und v. a. Toilettenpapiervorräte im Supermarkt keine Sorgen machen müssten. Wir atmeten wieder auf. Es gab genug zu essen! Das Ob konnte wieder durch das Was ersetzt werden.
Doch die Corona-Krise hat uns eine Realität des Lebens vor Augen geführt, die bei vielen von uns in Vergessenheit geraten war: Die Dinge des alltäglichen Lebens stehen uns nicht unendlich zur Verfügung. Insofern stellt diese Pandemie einen wichtigen Einschnitt für unsere westliche Zivilisation dar. Viele von uns erlebten zum ersten Mal in ihrem Leben, wie es zu spürbaren Einschränkungen bezüglich unseres komfortablen Lebensstils kam, ausgelöst von einem Virus, das wir mit bloßen Augen nicht sehen können und dessen Beschaffenheit Virologen noch immer nicht gänzlich erfassen können. Und ausgerechnet dieses „unsichtbare“ Wesen machte uns auf die Bedeutung von Dingen aufmerksam, die im Überfluss vorhanden sind und denen wir im Rausch des Überflusses kaum Wertschätzung beigemessen hatten: sauberes Wasser zum Beispiel.
Welches Ausmaß hätte diese Pandemie wohl angenommen, wenn wir zu Hause kein sauberes Wasser hätten, um unsere Hände regelmäßig zu waschen? Welch Glück, dass wir nicht mit der Frage konfrontiert wurden, ob wir die Möglichkeit haben würden, unsere Hände zu waschen! Menschen in weiten Teilen Afrikas kommen täglich mit dieser Schicksalsfrage in Berührung. Für uns besteht die Frage dagegen lediglich darin, wie und wie oft wir unsere Hände waschen müssen, um uns und unsere Nächsten vor dem Virus zu schützen.
Das Innehalten in Krisenzeiten ist eine Chance. Denn die am Beispiel des sauberen Trinkwassers aufgeführte Selbstreflexion führt uns zwangsläufig zu mehr Wertschätzung gegenüber der Natur, die Gott dem Menschen zur Verfügung gestellt hat. Ein solches Innehalten und Nachdenken kann dazu führen, dass wir unser Verständnis vom individuellen Glück überdenken, dass wir darüber nachdenken, was wir für ein glückliches Leben tatsächlich brauchen und worauf wir verzichten könnten.
Was vermissten die Menschen während der Ausgangsbeschränkungen wohl am meisten? Waren es ihre teuren Autos, die nun fast den ganzen Tag in den Garagen ruhen mussten? Waren es Kreuzfahrten oder Sternerestaurants? Oder waren es vielmehr die einfachen Dinge des Lebens, wie der Besuch von Freunden und Familienangehörigen, der Jubel während eines Fußballspiels im Stadion oder ein gemeinsamer Gottesdienst? Wie schwerwiegend der Verzicht auf Letzteres sein kann, konnten Gläubige deutlich spüren. Gerade in einer Zeit, in der sie sich so hilflos fühlten und Gottes Hilfe ersuchen wollten, war ihnen der Zugang zu ihren Gotteshäusern versperrt. Das Bedürfnis nach spiritueller Hingabe ist in Krisenzeiten gewöhnlich noch deutlicher zu spüren als sonst. Denn der Mensch wird sich in solchen Zeiten erneut und immer wieder seiner Vergänglichkeit bewusst. So erging es beispielsweise den Schriftstellern zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Der allgegenwärtige Tod rückte das Motiv Memento mori(Gedenke des Todes) ins Zentrum der Literatur dieser Epoche. Die Vergänglichkeit des Lebens wurde, um es mit einem Modewort auszudrücken, zum Trending Topic Nummer eins.
So ähnlich ergeht es auch uns in Zeiten von Corona. Mit der Epidemie hat sich der Tod einen festen Platz in den Medien und damit auch in unserem Bewusstsein ergattert. Täglich wurden neue Zahlen über Neuinfizierte und Tote vorgestellt. Bilder von menschenleeren Innenstädten und Intensivstationen machten einen schauderhaften Eindruck auf uns. Wir nutzten Streamingdienste, um Hoffnung aus den Podcasts von Virologen zu schöpfen. Doch gleichzeitig realisierten wir, dass wir trotz des medizinischen Fortschritts und unseres hohen Lebensstandards doch sehr beschränkte Wesen sind.
Wie geht es danach weiter?
Eine Frage beschäftigte die öffentliche Meinung in diesen Tagen ganz besonders: Wie wird unser Leben nach der Epidemie aussehen? Zahlreiche Experten prophezeien, dass unser Leben nicht mehr so sein wird wie zuvor. Viel wichtiger erscheint jedoch die Frage, ob wir überhaupt zur alten Normalität zurückkehren wollen. Menschen in systemrelevanten Berufszweigen hoffen, dass ihre Arbeit auch bezüglich ihrer finanziellen Absicherung mehr und dauerhaft Wertschätzung genießt. Lehrkräfte hoffen auf den Ausbau digitaler Infrastrukturen in Schulen für einen Unterricht, der den Anforderungen des digitalen Zeitalters gerecht wird. Auf gesellschaftlicher Ebene wünschen wir uns, dass sich die Solidarität, die viele Bürgerinnen und Bürger beispielsweise in Form von Nachbarschaftshilfe oder Blutspendeaktionen bekundeten, auch nach Corona fortsetzt. Dieser Solidaritätsgedanke könnte auch auf eine globale Ebene übertragen werden und uns dabei helfen, als Weltgemeinschaft stärker zusammenzuwachsen, wenn wir auf internationale Zusammenarbeit setzen statt auf nationale Abschottung.
Und nicht zuletzt kann diese Epidemie auch auf individueller Ebene einen Perspektivenwechsel bewirken und den Blick des Menschen des 21. Jahrhunderts wieder auf das Metaphysische lenken. Denn Corona führte uns aufs Neue vor Augen, wie fragil unser öffentliches Leben ist und wie beschränkt unser Handlungsspielraum sein kann, wenn uns die gewohnte Harmonie des Lebens abhandenkommt. Und sie hob eine Tatsache hervor, die wir doch so gerne in den Hintergrund drängen: die Vergänglichkeit des Lebens.
Die Entschleunigung des Alltags in diesen Tagen kann daher auch als eine Chance genutzt werden, um die oben aufgeführte Frage so zu formulieren, wie sie seit Beginn des menschlichen Lebens immer wieder gestellt wird: Wie geht es nach dem Tod weiter? In dieser Frage steckt eine Chance, die dem Menschen das Tor zur Unendlichkeit öffnen kann.