Die Welt ist aus den Angeln
Der Historiker Philipp Blom hat sich in seinem Buch „Die Welt aus den Angeln“ mit den Auswirkungen der Kleinen Eiszeit zwischen 1570 und 1700 befasst. Gibt es Parallelen zum Klimawandel heute? Und, wenn ja, was sollen wir tun? Ein Gespräch.
Herr Blom, wieso ein Geschichtsbuch über eine Eiszeit?
Ich wollte wissen, was ändert sich in einer Gesellschaft, in der sich auch das Klima ändert. Mit anderen Worten: Sind das triviale und erwartbare Änderungen oder sind das komplexe Änderungen, die viel weiter gehen. Über die kleine Eiszeit in Europa haben wir zufällig sehr viele Daten. Wir können ein sehr feinkörniges Bild aufbauen davon, was damals passiert ist. Wie sich das auf das soziale Gefüge ausgewirkt hat. Interessant ist nicht, dass es zwei Grad kälter wird und die Leute sich wärmer anziehen, sondern dass es kälter wird und sich daraus eine Krise der Landwirtschaft entwickelt. Und daraus resultiert wiederum eine Krise des ganzen feudalen Gesellschaftsmodells. Am Ende dieser Krise ist Europa ein anderer Kontinent geworden. Es gibt keine Gesellschaften mehr, die um Burgen organisiert sind, sondern Gesellschaften, die um Märkte herum organisiert sind. Gesellschaften mit anderen politischen Strukturen, mit anderen ökonomischen Praxen, anderen Arten der Kriegsführung, aber auch solche, in denen andere philosophische Ideen möglich geworden sind. Ich wollte aber nicht nur betrachten, was mit unseren Vorfahren passiert ist, sondern auch ein Auge darauf werfen, was mit uns passieren wird. Denn wir müssen uns bewusst sein, dass der gegenwärtige Klimawandel unsere Gesellschaft auf eine Art verändern wird, wie wir es uns nicht vorstellen können. In der Migrationslage schlägt sich das nieder. Das sind indirekte und direkte Flüchtlinge des Klimawandels. Es gibt eine Untersuchung darüber, dass der Bürgerkrieg in Syrien maßgeblich deshalb angefangen hat, weil Syrien die schlimmste Dürre seit 800 Jahren erlebte und die Bauern ihre Felder aufgeben mussten und in die großen Städte gezogen sind. In genau die Slums, wo es die meisten Aufstände gegeben hat. Die Effekte des Klimawandels werden viel breiter gefächert und tiefer sein als das, was wir uns darunter vorstellen können.
Sie gehen in ihrem Buch auf das Leben und Wirken berühmter Persönlichkeiten wie Descartes, Locke, Spinoza ein. War die Zeitspanne der Kleinen Eiszeit eine besondere für Intellektuelle?
Das war sie. Wenn man Philosophie lernt, dann lernt man abgeschlossene Systeme von Ideen, die sozusagen miteinander korreliert sind. Ideen entstehen nur unter bestimmten historischen Umständen und werden nur unter diesen gesellschaftlich wirksam. Sie sind eine Antwort auf diese Krise, in der die gesamte soziale Pyramide wackelt. Die Bauern haben nichts mehr zu essen, der Adel kriegt keine Steuern mehr, die Städter leben in fürchterlicher Inflation. Das Leben ist unsicher und die göttlich gewollte Ordnung scheint nicht mehr stabil zu sein. Das schafft Öffnungen für neues Denken. Diejenigen, die neue Antworten finden, sind eine Art von neuer Mensch. Die lesen und schreiben können, die in Städten leben und die nicht adelig sind und was können. Diese neuen Experten aus der Mittelschicht beginnen, Teilgebiete zu reformieren, z. B. den Handel, die Bildung, die Administration von Staaten. Diese alphabetisierte Mittelschicht hat dann allmählich wirtschaftliche, kulturelle und politische Macht, die sich zuvor in den Händen des Adels und der Kirche befand. Wenn sie ein Machtinteresse in der Gesellschaft durchsetzen wollen, müssen sie das verargumentieren. Sie nehmen ein Argument aus der philosophischen Mottenkiste, das da seit Jahrtausenden liegt, aber nie größere Bedeutung gefunden hat und immer marginal geblieben ist: Menschen sind gleich. Das, was wir die Aufklärung nennen, das kommt auch aus einer historischen, wirtschaftlichen und sozialen Situation heraus. All diese Personen im Buch gehören eben zu dieser urbanen Mittelschicht. Spinoza war ein Kaufmann, Descartes war Offizier, Locke hat in der Verwaltung gearbeitet, Hobbes war Hauslehrer. Der Klimawandel wirkte da neben der Reformation als Katalysator, weil er Entwicklungen beschleunigt hat.