Eine weitere Dimension in der Vervollkommnungsreise (Seyr we Suluk) – Teil 2
Die vier Grundprinzipien und ihre Entfaltung
Von Fethullah Gülen
Im ersten Teil erklärte der Lehrmeister, dass die Zehn göttlichen Feinheiten oder die sieben Stufen des Nefs (des Selbst) in der spirituellen Vervollkommnungsreise zusammen mit dem Weg der Tschille (selbstgewählte vierzigtägige Entsagung) von den spirituellen Meistern als anerkannte Methode betrachtet wurde.
Alternativ beschrieb er den Weg der Propheten und ihrer Gefährten und die Grundlegenden sechs Prinzipien eines solchen alternativen Weges.
In diesem zweiten Teil, geht der Lehrmeister darauf ein, dass Großmeister Bediuzzaman in seinen Beschreibungen insgesamt vier Grundprinzipien aufzählt: Machtlosigkeit, Armseligkeit, Barmherzigkeit und tiefe Reflexion. Dazu kommen noch zwei weitere ergänzende Komponenten, nämlich Begeisterung und Dankbarkeit, die in den einschlägigen Abhandlungen von Bediuzzaman vorzufinden sind. Der Lehrmeister behandelt den alternativen Weg von Großmeister Bediuzzaman mit einem ganzheitlichen Blick auf sein Kompendium.
Nachdem das Thema auf diese Weise dargelegt wurde, ergeben sich im Rahmen von Bediuzzamans Klassifikation aus diesen vier ineinandergreifenden Grundprinzipien vier verschiedene Ausgangspunkte bzw. Verse und vier grundlegende Disziplinen.
Diese können in den folgenden vier Punkten zusammengefasst werden:
Sich bemühen, sich nicht für rein zu halten, sich nicht rein zu waschen, entgegen der Neigung der Natur des Menschen, sich für rein zu halten und keine Fehler zu akzeptieren.
Der Eifer, sich in den Dingen zu vergessen, in denen man sich vergessen sollte, und der Eifer, sich an das zu erinnern, was man sich merken sollte.
Die wahren Quellen von Gutem und Bösem zu ermitteln, jede Errungenschaft und Niederlage ihnen zuzuschreiben und in Momenten des Erfolgs statt Stolz Lobpreisung und Dankbarkeit zu empfinden, während man bei Fehltritten Betrübnis und Bedauern verspürt.
Der Reisende auf dem Weg der Wahrheit soll in jeder Station, jedem Zustand und jeder Rangstufe sich selbst und seine Fähigkeiten als einen Schatten oder den Schatten eines Schattens des Seinslichts Gottes betrachtet und seine eigene Existenz und ihre Eigenschaften als Spiegel der Manifestationen des göttlichen Wissens und Seins erkennen.
Nun wollen wir diese Themen im Einklang mit den grundlegenden Gedanken des ehrwürdigen Meisters Bediuzzaman etwas näher erläutern:
1.
Der erste Ausgangspunkt und die erste Disziplin kann folgendermaßen zusammengefasst werden:
Das Nefs, das Menschenselbst, ist seiner Natur und Beschaffenheit nach außerordentlich selbstverliebt. Er liebt vor allem sich selbst und bezieht seine Beziehungen zu anderen immer wieder auf sich.
Es wendet sich manchmal so sehr sich selbst zu und verehrt sich selbst, wie es ein gläubiges Herz für Den absolut einzig Anbetungs- und Dienstwürdigen und Den einzig Wahren, der es verdient, als wahrhaftiger Zweck verfolgt zu werden, tun würde.
Es will sich keine Fehler oder Schuld eingestehen und hält sich immer für rein von Mängeln und Fehlern.
Um dieser negativen Haltung von ihm zu begegnen, ist es im Rahmen der „großen Anstrengung“ notwendig, das eigene Nefs kontinuierlich zu hinterfragen, zu reflektieren und in den Schmelzereien1 der Selbstprüfung und Selbstkritik zu schmelzen und einzuweichen, zu kneten und zu formen. Unter keinen Umständen sollte es als rein betrachtet werden.
Man Sollte nicht nur vermeiden, es für rein zu halten, sondern auch die Entschlossenheit dieses „Sich-nicht-für-rein-Haltens“ als ein Waschbecken der spirituellen Reinigung betrachten, damit die menschlichen Tiefen in seinem Inneren/Essenz entfaltet werden können.
Wenn wir es schaffen, durch das „Sich-nicht-für-rein-Halten“ auf einer Reinigungssuche zu bleiben, werden sowohl Engel als auch geistige Wesen unsere materielle und immaterielle Reinheit bewundern und, gemäß einem Hinweis aus einem Hadith, von allen Seiten herbeieilen, um die Reisenden dieses Weges zu umarmen.
Wenn wir jedoch in die Falle tappen, ihn immer wieder als rein und geläutert zu betrachten, wird es unvermeidlich, dass wir zu Vertretern verabscheuungswürdiger Wesen werden, die selbst böse Geister und Teufel erschrecken.
Wie Mevlânâ sagt: Manchmal wird der Mensch unter dem Einfluss teuflischer Emotionen fast zum Iblis (Diabolus); manchmal steht er auf der Lebensebene des Herzens und des Geistes den Engeln gleich.
2.
Der zweite Ausgangspunkt und die zweite Disziplin kann folgendermaßen zusammengefasst werden:
Aufgrund des ungeläuterten diktierenden Nefs (nefs-i emmâre) kann der Mensch lebenswichtige Themen, die er aus seinem Herzen keinen Moment verdrängen sollte, häufig vergessen und manchmal möchte er sich vielleicht nicht einmal daran erinnern.
Andererseits kann er bestimmte Gedanken, an die er sich niemals erinnern sollte, einfach nicht aus seinem Herzen verdrängen.
Dabei sollte er immer an den Dienst für das Wohlgefallen Gottes, an Ernsthaftigkeit in seinen Handlungen, an seine Verantwortung gegenüber den Menschen um sich herum, an den Tod und das Leben jenseits des Todes denken.
Im Gegenzug sollte er jede Art von Groll, Hass, Begehren/Gier, [ungeeignete] Genüsse und Wünsche des Nefs aus seinem Geist verbannen, um seine Spiritualität in seinem Inneren nicht zu ersticken und keine teuflischen Begierden wieder zu erwecken.
Ja, als Reisende auf dem Weg, sollten wir es immer als unseren Reichtum sehen, an Gott zu glauben und im Einklang mit seinem Wohlgefallen zu leben.
Wir sollten all unsere Gefühle, Gedanken und Handlungen darauf ausrichten, Seine Zufriedenheit zu erlangen, unser Leben überall und jederzeit mit Seiner Gegenwart zu verbinden.
Dank dieser geheimnisvollen Gegenwart können wir jede Sekunde eine besondere Verbundenheit finden und unsere Herzverbindung mit Gott aufrechterhalten, gemäß dem Zitat von Mewlana Rumi: „Hier ist jemand verborgen, o Herz, halte dich nicht für allein.“
Unsere Begrenztheit zu überwinden und zur Unendlichkeit zu streben, den Tropfen zum Ozean zu machen und im Teil das Geheimnis des Ganzen zu suchen, sind für uns grundlegende Prinzipien.
In dem Maße, in dem wir unser Leben in diesem Rahmen führen können, werden scheinbar unlösbare Dinge nach und nach überwunden;Teile werden zum Echo und Spiegel des Ganzen; das Nichts bekleidet sich mit der Farbe des Daseins, der Tropfen tritt vor den Mond, der Erdboden wird so erhaben wie die Himmelssphären und kleinste Wesenheiten, Atomen ähnlich, dehnen sich aus zu Universen.
Der Sultan der Gottverliebten, Mewlana, drückt diese Überlegung so aus:
„Vor einem Krug, der den Weg zum Meer gefunden hat, verbeugen sich die Flüsse.“ Mit diesen Worten rät er uns, unsere eigene Existenzgeometrie zu überwinden und die geheimnisvolle Weite unseres Geistes zu erreichen.“
Anmerkungen
Schmelzereien: im türkischen „İzâbehâneleri”. Das Wort „izâbe“ bedeutet im Türkischen „Schmelzen“ oder „Reinigen“. „Hane““bedeutet „Haus“ oder „Ort“. Zusammen ergibt „izâbehâneleri“ den Ort, an dem etwas geschmolzen oder gereinigt wird.
In diesem Zusammenhang bedeutet „muhâsebe izâbehâneleri“ wörtlich übersetzt „die Werkstätten der Selbstprüfung und – reinigung“. Es handelt sich um einen metaphorischen Ausdruck, der Orte oder Prozesse beschreibt, in denen eine Person ihre Handlungen und Gedanken überprüft, reinigt und verfeinert, ähnlich wie Metalle in einer Schmelzerei gereinigt und veredelt werden.