Ilm ledunn

Von Fethullah Gülen

Das arabische Wort ledunn, das zugleich ein Synonym des Wortes ʿinde ist, kann mit Stufe, Ebene, Anwesenheit, Gegenwart, Nähe übersetzt werden. Spricht man von ʿilm ledunn, so bedeutet diese Genitivverbindung mit ʿilm (Wissen) das Wissen des Verborgenen, das Wissen von Geheimnissen, jenes göttliche Wissen, das Gott in das Herz eines Menschen pflanzt, und die Wahrheiten, die im Inneren aufblühen.

Es bezeichnet in erster Linie das Wissen aller Propheten und Gesandten, aber auch das aller Gottesfreunde (evliyā), reinen Gelehrten (aṣfiyā), Segensreichen (ebrār) und Gottnächsten (muqarrabīn) – auf diese Bezeichnungen wird an anderer Stelle näher eingegangen – im Sinne einer durch Gott in die Herzen eingegebenen Wissens- und Erkenntnisform mit dem Offenbarungs- und Inspirationstitel, eine Art des Wissens aus der Gegenwart Gottes (ʿilm ledunn). Insbesondere jede Art von Wissen und Erkenntnis des Sultans des Gegenwartswissens (ʿilm ledunn), des Nächsten aller Gottesnahen, hinsichtlich des absolut Verborgenen und relativ Verborgenen (damit ist das Wissen des Verborgenen, das Wissen der Geheimnisse und die Kultur des Gewissens gemeint) ist eine Art des Wissens aus der Gegenwart Gottes (ʿilm ledunn). Süleyman Çelebi bringt dies in folgendem Vers zum Ausdruck:

Gekommen ist der Sultan des ʿilm ledunn, gekommen ist die Schatzkammer des Wissens um die Einzigkeit Gottes.

Der Beispiellose in Raum und Zeit ist der perfekte Schatzmeister dieses geheimen Wissens und der Held dieses persönlichen Teiches der Gotteserkenntnis. Es ist jedoch zu beachten, dass solch ein besonderer Gunsterweis den Gottesfreunden und Propheten, den reinen Gelehrten und Gesandten nicht immer zusteht. Denn ʿilm ledunn ist ein privates Wissen und eine persönliche Erkenntnis, die durch göttliches Überquellen in die Herzen gelangt. Und für diejenigen, die an dieser Ebene nicht teilhaben, ist es unmöglich, dies zu verstehen.

Nicht immer gibt es eine Übereinstimmung solch eines verborgenen Wissens mit der offenkundigen Werte- und Normenlehre [des Islams]. Wer in solchen Fällen seine Geistesschau nicht einer Kontrolle durch die Religionsgrundlagen unterzieht und diese entsprechend korrigiert, kann Irrtümern erliegen und obendrein auch seine Anhängerschaft in die Irre führen. Diejenigen hingegen, die ihre spirituellen Entdeckungen und Inspirationen im Lichte der eindeutigen Offenbarungen deuten, sehen in einem Horizont zwischen dem physischen und metaphysischen Sein beide Seiten zugleich. In den Augen dieser Menschen sind Diesseits und Jenseits die zwei unterschiedlichen Seiten einer einzigen Medaille. Sie präsentieren ihren Schülern die süßen Getränke aus den Kewthar-Quellen der Geschenke Gottes aus beiden Welten.

Während der edle Koran in der Sure el-Kehf ohne den Namen zu nennen von einem besonderen Diener Gottes mit solchen Eigenschaften berichtet, identifizieren die authentischen Hadithquellen diese Person als Khidr.

„Und sie fanden (dort) einen von Unseren Dienern, dem Wir Barmherzigkeit als Gnade von Uns hatten zuteilwerden lassen und den Wir ein besonderes Wissen aus Unserer Gegenwart gelehrt hatten“ (18:65).

Die Sufigelehrten gehen davon aus, dass es sich bei dem Wissen, das Gott Khidr lehrte, um ʿilm ledunn handelte. Und auch wenn dem Propheten Moses, einem der fünf großen, entschlossenen Propheten, hinsichtlich des göttlichen Wissens gänzlich Folge geleistet wurde, folgte er selbst in Bezug auf ein bestimmtes Motiv im Rahmen des ʿilm ledunn ausschließlich dem ehrwürdigen Khidr und versuchte, die Umgebung dieses Wissens zu erblicken. In der Hadithsammlung Saḥīḥ el-Buchārī ist ein Ausspruch des Propheten Muhammad überliefert, der auf den Unterschied zwischen dem Wissen der Propheten um die Wahrheiten Gottes und einigen Aspekten des besonderen Wissens aus der Gegenwart Gottes hinweist: Khidr sagte zu Moses: „O Moses, ich besitze eine Art von Gotteswissen, die du nicht kennst, und du besitzt eine andere Art von Wissen, die ich nicht kenne.“

Dieses besondere Wissen ist kein Wissen für die Allgemeinheit. Es ist vielmehr ein Gunstbeweis, den Gott nur einigen wenigen Menschen zuteilwerden lässt. Sie mögen ihren Mitmenschen auf anderen Wissensgebieten unterlegen sein – in diesem Punkt jedoch kann ihnen niemand das Wasser reichen. Denn dieses Wissen ist eine Reflexion der göttlichen Sonderschenkung und ist nicht von sich aus erwerbbar. Die Ursächlichkeit von Aspekten wie Würdigkeit, Fähigkeit und die Nähe zu Gott könnte in diesem Bezug zwar als Anlass gesehen werden, dennoch ist sie keine kausale Bedingung. Doch in erster Linie ist dieses besondere Wissen ein Geschenk, das Gott Dienern macht, die Er selbst erwählt. Man kann es sich also nicht durch Studium, Forschung oder anderweitig aneignen.

ʿilm ledunn ist im Sinne des Verses „Das ist Gottes Gnade. Er gewährt sie, wem Er will. Wahrlich, Gott ist von gewaltiger Gnadenfülle“ (62:4) der Titel einer göttlichen Sonderreflexion.

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass das besondere Wissen aus der Gegenwart Gottes zwar überaus faszinierend, verlockend, begehrenswert und offen für die göttlichen Geheimnisse sein mag; doch muss das Wissen um die Religion und die Wahrheiten Gottes, mit dem die Propheten gesegnet waren, noch viel höher eingestuft werden. Es ist nämlich mit objektiven Maßstäben überprüfbar, steht allen Menschen offen und garantiert uns Glückseligkeit in dieser Welt und im Jenseits. Der Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Wissen tritt bei Moses und Khidr deutlich zutage:

Moses Wissen war das Wissen über die Werte und die Normativität der Religion. Es war ihm gelehrt worden, weil es das Leben der Menschen im Diesseits regeln und ihnen im Jenseits Glückseligkeit bescheren sollte. Insofern war es absolut unverzichtbar. Khidr hingegen verdankte sein Wissen einer besonderen Gnade Gottes, der ihm bestimmte Aspekte des Verborgenen und einige Seiner Geheimnisse enthüllte. Moses’ Wissen war verknüpft mit den Urteilen und Beschlüssen in Bezug auf die Gewährleistung der Sicherheit des öffentlichen Lebens, während Khidrs Wissen aus einigen besonderen Schenkungen bestand, die sich auf die metaphysische Dimension von Leben und Sein bezogen. Diese zweite Art von Wissen wurde auch „das reine Wissen aus Gottes Gegenwart“ (ʿilm ledunn ṣirf), „Kenntnis der Wahrheit“ (ʿilm ḥaqīqa) oder „Wissen um die inneren Dimensionen des Seins“ (ʿilm bāṭin) genannt. Es ist eine ertragreiche Quelle, die zu Gottes Geheimnissen führt. Das unterstreichen folgende Gedichtverse:

O du Gelehrter, schenke der Kenntnis dessen, worüber die Menschen sprechen, keine Beachtung. Suche lieber nach den Geheimnissen der Höchsten Wahrheit in dem besonderen Wissen aus Seiner Gegenwart.

Auch wenn angesichts dieser Forderung eine Verbindung zwischen dieser Art von Wissen und der persönlichen Bemühung, es zu erlangen, zu bestehen scheint, ist es offensichtlich, dass dieses Wissen nichts mit Lehre und Studium zu tun hat. Denn dieses Wissen spiegelt sich als reines Geschenk in manchen reinen Herzen als eine heilige Kraft. Und zudem erscheint diese Reflexion nicht durch ein bemühtes Hinaufsteigen (des Menschen), sondern durch das Herablassen der göttlichen Erkenntnis. Dieses Wissen ist eine Erkenntnis, die vom Meister zu seinem Werk und vom Gewissen ins Sein ausstrahlt. Und in jedem Fall entstammt sie der Quelle der Inspiration und der spirituellen Entdeckung. So wie diese Inspiration sich in verschiedenen Graden widerspiegelt, sei hier auch erwähnt, dass für diejenigen, die ihre geistige Reise nicht nach den Richtlinien des Propheten ausrichten, eine Verwechselung mit Einflüsterungen des Teufels und Einbildungen des Diktier-Nefs sehr wahrscheinlich ist.

Inspiration ist die wichtigste Quelle des ʿilm ledunn. Auch wenn die spezifische Bedeutung es nicht so wiedergibt, umfasst sie den größten Bereich, was die göttlichen Reflexionen angeht. Wenn sich die Inspiration im Herzen des Menschen ohne Einfluss seines eigenen Willens als ein Geschenk Gottes widerspiegelt, so nennt man dies Einfall (ḫāṭir). Wenn jedoch solch ein Einfall oder solch eine Erinnerung nach den eigenen Indizien und Kriterien nicht gewiss ist, so könnte es auch die Einmischung des Teufels sein. Sollte aber eine Inspiration ihren eigenen Indizien und Kriterien nach gewiss von dem Wahren eingegeben worden sein, so kann man davon ausgehen, dass es sich um ʿilm ledunn handelt. Das größte Zeichen dafür, dass solch ein Hauch aus der Gegenwart des ehrenwerten Wesens des Wissens kommt, ist dessen Übereinstimmung mit dem Koran und der Prophetentradition (Sunna). Es ist nicht sehr unwahrscheinlich, dass der Einfall oder die Einfälle (ḫawāṭir) – so wird es unter Sufigelehrten eher bezeichnet – die diese Prüfung mit den zwei grundlegenden Quellen nicht bestehen, falsche Einbildungen des Diktier-Nefs oder Einflüsterungen des Teufels sind. So besteht auch kein Zweifel daran, dass ein Einfall, der mit diesen zwei Quellen korrespondiert, ein göttliches Überquellen der Reflexionen des ehrenwerten Wesens des Wissens ist.

Im Gegensatz dazu können jene Einfälle, die durch die Einflüsterungen des Teufels zustande gekommen sind, als teuflisch und jene Einfälle, die die Gelüste des Diktier-Nefs in sich bergen, als Wahnvorstellungen (hedjes) oder falsche Einbildungen des Diktier-Nefs (hedjes nefsānī) bezeichnet werden. Ein spiritueller Reisender, ein Eingeweihter, der in solche Trugschlüsse hineingedrängt wurde, sollte sich umgehend zum erhabenen Wahren hinwenden und seinen Zustand den eindeutigen Werten- und Normen (des Islams) entsprechend einer feinen Kalibrierung unterziehen.

Sufigelehrte nennen die Ansprache, die aus der Gegenwart Gottes kommt und im Herzen widerhallt, „Einfall von der Höchsten Wahrheit“ (ḫāṭir el-ḥaqq). Die Ansprache, die von den Engeln kommt, bezeichnen sie als „Einfall von den Engeln“ (ḫāṭir el-melek), und die „Funken“, die vom Satan und vom Diktier-Nefs entzündet werden und den Geist überfallen, als „Einbildungen oder Einflüsterungen des Satans“. Die Kompetenz, diese verschiedenen Arten von Einfällen voneinander zu unterscheiden, hängt davon ab, wie gut man sich mit den Maßstäben der Religionsgrundlagen und der Prophetentradition auskennt. Denn auch wenn diese Einfälle mit den Grundprinzipien überprüft werden können, kann es vorkommen, dass Einfälle dem Anschein nach den Grundprinzipien nicht widersprechen, dennoch im Hintergrund listigen, teuflischen Plänen, Zielen und Zwecken dienen. Aus diesem Grunde können nur Experten auf diesem Gebiet verlässliche Einfälle von unverlässlichen unterscheiden.

Da das Nefs und seine Einbildungen und der Teufel und seine Einflüsterungen eigenständige epistemologische Themen sind, die nicht primär ʿilm ledunn betreffen, gehen wir auf diese Begriffe hier nicht näher ein. 

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