Eine Geschichte des Sufismus für Leser aus dem Westen
Der Sufismus ist im Westen lange missverstanden worden. Einige hielten ihn fälschlicherweise für eine mystische fernöstliche Religion. Aber seine islamischen Wurzeln reichen bis zum Propheten Muhammed und seine Begleiter zurück.
In der westlichen Öffentlichkeit ist der Sufismus häufig mit den mystischen Traditionen des Fernen Ostens vermengt und als eine unabhängige Religion ohne Bande zum Islam betrachtet worden. Der Begriff „Sufismus“ wird jedoch weithin als islamische Mystik definiert, die zur wahren Liebe Gottes aufruft, welche nur durch maʿrife (Gnosis) oder Erkenntnis Gottes entstehen könne.[i] Maʿrife lässt nicht nur Liebe entstehen, sondern auch Gottesfurcht, da die Menschen durch die wahre Kenntnis Gottes am Ende begreifen werden, wie wenig wünschenswert der Zorn Gottes sein kann.
Für Sufis ist Gott mehr als das, was die Gelehrten der islamischen Normenlehre des frühen Islams beschrieben. Für die Normenlehre ist Gott derjenige, der das Weltall erschaffen und die Menschen verpflichtet hat, ihm ihren Gehorsam zu zeigen, indem sie seinen Befehlen folgen und sich des Verbotenen enthalten. Für Sufis ist Gott jedoch der Eine, dem sich die Menschen durch echte Liebe und respektvolle Furcht nähern können.[ii] So lehren die Sufis nicht nur freudigen Gehorsam gegenüber Gott, sondern auch das Gedenken Gottes zu jeder Zeit und den Verzicht auf alles, was dieser vorläufigen Welt zugehört, um Reinheit zu erzielen und einen Zustand der direkten Erfahrung Gottes zu erreichen oder sogar des Aufgehens im Wesen Gottes.[iii]
Für el-Dschuneyd (gest. 910), einem der größten Sufis des 9. Jahrhunderts, geht die Essenz des Sufismus auf eine Eigenschaft Gottes zurück, die sich dadurch manifestiert, dass sie die menschlichen Eigenschaften auflösen lässt.[iv] Um das Selbst in Gott aufgehen zu lassen, muss man sich von dieser Welt trennen. Mit den Worten Abu al-Hasan Nuri (gest. 907), eines der frühesten Sufis: „Sufismus ist der Verzicht auf weltliche Vergnügungen, und Sufis sind diejenigen, deren Seelen von den Makeln der Menschheit befreit und deren fleischliche Wünsche vernichtet worden sind, um gereinigt zu werden, so dass sie Ruhe in Gott finden konnten.“[v]
Dieses Zitat weist darauf hin, dass Askese ein gemeinsames Merkmal im Leben von Sufis ist. Wie Nuri beschreibt el-Dschuneyd Sufis als Menschen, die „den Sufismus nicht dem Gespräch oder den Wörtern entnahmen, sondern dem Hunger und dem Verzicht auf die Welt und dem Abschneiden der Dinge, an die wir gewohnt waren und die wir als angenehm empfunden haben.“[vi] Für den Ägypter Dhun-Nūn (gest. 859), ein anderer bekannter Sufi aus dem 9. Jahrhundert, sind Sufis diejenigen, die nicht müde werden, wenn sie um irgendetwas gebeten werden; sie lassen sich durch keinerlei Verlust betrüben. Sie haben Gott allem vorgezogen, und Gott wiederum zieht sie allen vor.[vii] Deshalb haben sich die frühen Sufis hauptsächlich auf Gott und die Einheit Gottes (tewhīd) konzentriert, und ihr geistiger Weg vereinigte Taten und Rituale, die darauf zielten, den Islam in der Hoffnung zu verinnerlichen, Gott auf tiefere Weise zu verstehen.
Wann genau sich bestimmte muslimische Mystiker zum ersten Mal Sufis genannt haben, ist nicht bekannt. Mystik und eine asketische Lebensführung wurden seit der Zeit des Propheten praktiziert. Das Leben des Propheten Muhammed galt den Sufis als vorbildlich. Ali (gest. 661), der Vetter des Propheten, sein Schwiegersohn und der vierte Kalif des Islam, ist eine der wichtigsten Persönlichkeiten unter den Begleitern des Propheten und gab seine vom Propheten erworbenen mystischen Kenntnisse an die folgenden Generationen weiter. So erscheint er in fast jeder Sufi-Kette (silsile) als das erste Glied der geistigen Abstammung vom Propheten zum gegenwärtigen Scheich. Namen anderer Weggefährten des Propheten erscheinen an der Spitze einiger anderer Ketten.[viii] Sufis glauben, dass der Prophet seinen Gefährten seine mystischen Wege und allgemein nicht zugängliches spirituelles Wissen (ilm el-ledun) lehrte und sie diese wiederum den folgenden Generationen vermittelten und so das erste Glied einer geistigen Kette wurden.
Anders als die Anhänger der Sufiorden, die nach dem 11. Jahrhundert auftraten, betrachteten die ersten Generationen nach dem Propheten die Mystik nicht als einen eigenständigen Weg innerhalb des Islams. Sie sahen in den asketischen Methoden des Propheten und der Gefährten einen Teil der Sunna (Traditionen) des Propheten. Dennoch war der Begriff „Sufismus“ im Sinne einer ausgezeichneten Praxis innerhalb des Islams im 8. Jahrhundert bereits im Gebrauch. Allerdings war er nicht systematisiert worden, noch gab es irgendwelche organisierten Gruppen, wie es die späteren Sufiorden waren. So waren die Sufis bis zum 12. Jahrhundert als unabhängige Einzelgelehrte tätig, die Studenten, die auf der Suche nach spirituellem Wissen waren, ihren persönlichen Weg der Mystik lehrten. Nur sehr wenige Menschen vermochten Sufi zu werden, da nur wenige Leute wussten, wie man in einem Übungskreis aufgenommen wurde oder über die Beziehungen verfügte. Aber selbst die Kenntnis der Verfahren und Beziehungen reichten nicht aus. Man musste strenge innerliche Reinigungsprozesse durchlaufen, wobei das Geringste der Verzicht auf die Vorteile dieser Welt war. Wenn der zukünftige Student eine glänzende wissenschaftliche Zukunft suchen sollte, dann war es folglich nicht attraktiv, dem Weg der Sufis zu folgen.
Die Entstehung der Sufiorden
Die Zeitspanne zwischen dem 8. und dem 12. Jahrhundert ist die Gründungsphase der Sufiorden. Die Sufis wurden zum ersten Mal im 8. Jahrhundert in der politischen Arena sichtbar, als sie offen die Verschwendungssucht der Umayyaden-Dynastie kritisierten. Der Islam hatte sich auf drei Kontinenten ausgebreitet, und der Wohlstand nahm zu, da Geld aus den vor kurzem eroberten Territorien ins Land floss. Paläste wurden gebaut, und Luxus wurde für die herrschende Klasse zur Normalität.[ix]
Die Reaktion der Sufis war leise, aber hoch politisch. Sie begannen, gegen die Regierung zu protestieren, indem sie die Vorteile der Askese (zuhd) in ihren Lehren betonten.[x] Sie ermunterten ihr Publikum dazu, alles Zeitliche (fānī, „von dieser Welt“) im Tausch gegen das Ewige (bāqī, das Göttliche) zu verabscheuen. Wie eines der frühesten Handbücher der Sufis feststellt, erachteten die Sufis geistige Reinheit als eine Notwendigkeit, um Gott näherzukommen. Reue wurde immer wieder als ein Werkzeug der geistigen Reinigung vorgestellt, wohingegen Abstinenz und Armut als Tugenden betrachtet wurden, die helfen, die weltlichen Güter abzustoßen. Geduld wiederum würde helfen, die Not der Abstinenz und Armut zu ertragen und sündhaften Versuchungen zu widerstehen. Demut, Angst vor der Strafe Gottes, Frömmigkeit und Aufrichtigkeit erachteten die frühen Sufis als Werkzeuge, um die Seele zu erziehen, damit sie Gott näherkomme und nach Möglichkeit in den Stand der Vertrautheit mit Gott trete.[xi]
Anders als die organisierte und institutionalisierte Struktur der Sufiorden in späteren Zeiten agierten die Sufis der Gründungsphase als Einzelne, die sich bemühten, ihre spirituellen persönlichen Kenntnisse den neuen Generationen weiterzugeben. Es gab weder festgelegte Standards für solche Tätigkeiten, noch gab es die Tradition, ein Gebäude (Tekke) zu errichten, in dem man die Tätigkeiten ausführt. Ebū Hāschim (gest. 767) von Kufa, der den Begriff „Sufi“ zum ersten Mal verwendete, war auch derjenige, der das erste Gebäude des Sufismus in Ramla errichtete, einer Stadt in Palästina an der Straße von Kairo (Fustat) nach Damaskus, der Hauptstadt der Umayyaden. Dort las er vor reisenden Studenten über Sufismus.[xii] Anders als im 12. Jahrhundert, als die Bauten der Sufis zugleich als Unterkünfte dienten, wo Studenten eines bestimmten Sufiordens studierten und in der Lebensweise der Sufis erzogen wurden, hatte Ebū Hāschims Einrichtung die Form von zeitgenössischen Bildungseinrichtungen, in denen reisende Studenten Vorträge über islamische Wissenschaften hörten. Sufimeister der Gründungsphase lehrten entweder in ihren Häusern oder in örtlichen Moscheen und Bildungseinrichtungen. [xiii]
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[i]Annemarie Schimmel, Mystical Dimensions of Islam (Chapel Hill: The University of North Carolina Press, 1975), 24
[ii]Fudayl b. Iyad sagt, dass er Gott aus Liebe verehrt. Vgl. Abd al-Rahman Jami, Nafahat al-Uns, trans. Lamii Çelebi (Istanbul 1289 AH / 1872 CE), 91.
[iii]Ali bin Usman al-Hujwiri, The Kashf al-Mahjub, trans. Reynold A. Nicholson (Lahore: Zia-ul-Quran Publications, 2001),101–105.
[iv]Hujwiri, The Kashf, 107.
[v]Hujwiri zitiert Abu al-Hasan Nuri (gest. 907), einen der größten Sufis der Gründungsphase. Vgl. Hujwiri, Kashf, 107–108.
[vi]Schimmel, The Mystical, 58.
[vii]Abu Nasr as-Sarraj, Kitab al-Luma fit-Tasawwuf, ed. Reynold A. Nicholson (Leyden: E. J. Brill and London: Luzac & Co, 1914), 25. Schimmel zitiert denselben Text, aber in der englischen Version ihres Buches wurde das arabische Wort A-TH-R mit „choose“ (wählen) übersetzt, obwohl „prefer“ (vorziehen) eine bessere Übersetzung wäre, da „choose“ die Bedeutung etwas verzehrt. Vgl. Schimmel, The Mystical, 15.
[viii]Schimmel, The Mystical, 28.
[ix]Schimmel, The Mystical, 29.
[x]Abu’l Qasim Qushayri, al-Risala al-Qushayriyya fi ilm al-Tasawwuf, trans. Alexander Kynsh (Reading, UK: Garnet Publishing Limited, 2007), 17; Abdülkerim Kuşeyri, Kuşeyri Risalesi, trans. Süleyman Uludağ (Istanbul: Dergah Yayınları, 1978), 49.
[xi] Abu Bakr al-Kalabadhi, Kitab al-Taarruf li-madhhabahl al-tasawwuf, trans. A. J. Arberry (Cambridge; Cambridge University Press, 1978), 82–102.
[xii] Jami, Nafahat, 86.
[xiii] Schimmel, The Mystical,stellt detailliert dar, wie die frühen Sufis wirkten.