Dialog und Theater: Die Ringparabel in G. E. Lessings Nathan der Weise

Wenn es um den interreligiösen Dialog geht, kommt man in Deutschland um Gotthold Ephraim Lessing nicht herum. Der Kritiker, Dichter und Bibliothekar Lessing (1729-1781) ist ein großer Name in der Literatur- und Ideengeschichte und hat bis heute viel zum Thema Religion und die Religionen zu sagen.

Lessings Sicht der christlichen Kirchen war jedoch keineswegs einfach positiv. Als zum Beispiel der einflussreiche evangelische Hauptpastor der Stadt Hamburg, Johan Melchior Goeze, im Jahr 1778 Fragmente einer massiv religionskritischen Schrift, die Lessing anonym publiziert hatte, nur als unsinnig, boshaft und lästerlich bezeichnete, statt auf die Kritik einzugehen und die in den Texten aufgeworfenen Fragen ernsthaft zu erörtern, schrieb Lessing eine Reihe scharfer Pamphlete und verteidigte das gelehrte Wissen des ungenannten Autors, indem er erklärte: „Ein Neunundvierzigteilchen meines Ungenannten (ist) noch aller Hochachtung wert, und siebenmal mehr, als man an allen Orten und Enden der Christenheit zu einem Pastor oder Hauptpastor erfordert“. Die Erklärung klingt gewaltig, aber vielleicht liegt ihr eine Erfahrung zugrunde, die gar nicht so weit von der Erfahrung entfernt ist, die Fethullah Gülen in einem Interview beim Thema Auslegung des Islams in der Zeit (Idschtihad) beschreibt. Denn dort stellt er fest: „Wenn heute kein Idschtihad praktiziert wird, dann weil es an Menschen mit der entsprechenden Kompetenz und Qualifikation fehlt.“

Lessing wurde zu Recht ein Klassiker der deutschen Literatur- und Ideengeschichte.

Lessing selbst lebte sicher nicht mit dem Bewusstsein, eine Berühmtheit werden zu wollen, aber er wurde es durch sein scharfes Augenmerk auf aktuelle Probleme. Als zum Beispiel die Königliche Akademie der Wissenschaften in Berlin in seinen frühen Jahren eine Preisaufgabe ausschrieb, in der der Satz „alles ist gut“ (eigentlich: „whatever is, is right“) in einer Lehrdichtung des englischen Dichters Alexander Pope untersucht werden sollte, schrieb er gemeinsam mit seinem Freund Moses Mendelssohn einen Aufsatz und verspottete die hoch angesehene Akademie dafür, dass sie offenbar den Unterschied zwischen einem literarischen Kunstwerk und einem philosophischen System nicht kenne. Popes Dichtung über den Menschen und seine Welt (Essay on Man, 1733/34) lasse sich, so Lessing, nicht wie eine akademische Abhandlung studieren, sondern sei trotz ihres beachtlichen philosophischen Hintergrundes von der Freiheit eines Dichters bestimmt. Ein Dichter aber ziele eher auf einen „lebhaften Eindruck“ als auf eine „tiefsinnige Überzeugung“. Der Gegensatz ist nicht ganz leicht zu verstehen, schließlich geht es auch einem Dichter um Wahrheit, aber eben um Wahrheiten „in ihrem schönsten und stärksten Licht“, nicht in der Konstruktion eines gelehrtes Systems. In diesem Sinn dient auch Lessings Schauspiel Nathan der Weise der Suche nach Wahrheit.

Lessing zufolge sollen die Menschen ihren Glauben nicht zum Trotz gegen andere Religionen leben, sondern in herzlicher Verträglichkeit.

Dieser Lessing, der sich seinerzeit nicht scheute, mit geistreichen Polemiken gegen den Strom zu schwimmen, ist für Deutschland ein klassischer Autor geworden, vor allem mit seinem Schauspiel Nathan der Weise (1779), durch das er eine fiktive Geschichte über den Ursprung und die Nachbarschaft von Judentum, Christentum und Islam in Szene setzte. Hier will Lessing zeigen, dass sich die Wahrheit einer Religion nicht beweisen lässt und dass Menschen, die verschiedenen Religionen angehören, ihren Glauben nicht „zum Trotz“ gegen andere leben sollen (IV/4), sondern in „herzlicher Verträglichkeit“ (III/7) – was heute meistens nach dem lateinischen Wort „Toleranz“ genannt wird. Auch in Nathan der Weise kann Lessing allerdings so provokativ schreiben wie in vielen anderen seiner Texte: Er lässt zum Beispiel den weisen Juden Nathan auf der Bühne seine (adoptierte) Tochter Recha fragen: „Begreifst du aber, wie viel andächtig schwärmen leichter als gut handeln ist?“ (I/2) Oder er führt einen fanatisierten christlichen Bischof – den Patriarchen – vor, dem kein Wort der Verurteilung eines entsetzlichen Gewaltaktes von Kreuzfahrern, dem Nathans Familie zum Opfer gefallen war, über die Lippen kommt, der sich aber vom „Eifer Gottes“ getrieben sieht, wenn er ausgerechnet den fürsorglichen Nathan, der Recha ein Zuhause bietet, auf den Scheiterhaufen bringen will (IV/2).

Für einen jeden von euch haben wir Bahn und Weg gemacht. Hätte Gott gewollt, er hätte euch zu einer einzigen Gemeinde gemacht. (Sure 5 Vers 48)

Geradeso wie Pope als Dichter ein lehrhaftes Gedicht geschrieben hat, hat Lessing als Theaterautor ein lehrhaftes Schauspiel geschrieben. In beiden Werken steckt viel Nachdenken über die Religion: über Gottes Schöpfung und über Gottes Offenbarung, über den Glauben der Menschen und über das Leben der Menschen. Aber beide Werke sind literarische Kunstwerke, keine Abhandlungen; bei der Lektüre und Interpretation darf es deshalb nicht einfach nur um ein „System“ gehen. Es muss vielmehr auch um die Frage gehen, was für eine Wirkung die Dichter bei ihren Lesern und Leserinnen (und bei einem Theaterpublikum) erzielen wollen, um sie in eine offene, kommunikative, dialogische Situation zu versetzen. Unter den zahlreichen thematischen Aspekten, die in Lessings Nathan der Weise zu entdecken sind, steht dabei ein bestimmtes Thema eindeutig auf dem ersten Platz: das Thema der interreligiösen Beziehungen zwischen Juden, Christen und Muslimen.

Lessing hat sein Schauspiel zu diesem Thema auf eine mittelalterliche Beispielgeschichte (eine Parabel) aufgebaut, für die sich wiederum eine Inspirationsquelle im Koran benennen lässt. Der blendende, vielseitige italienische Erzähler Giovanni Boccaccio (1313-1375) hatte von einem Sultan Saladin von Kairo erzählt, der einen jüdischen Kaufmann Melchisedek von Alexandria erpressen wollte, indem er ihm die Frage stellte, welche von den drei Religionen Judentum, Christentum und Islam die wahre Religion sei. Was sollte da der jüdische Kaufmann dem muslimischen Herrscher antworten?! Was kann überhaupt ein gläubiger Mensch in einer solchen Situation antworten? Boccaccio lässt seinen Melchisedek dem Sultan also eine kleine Geschichte erzählen: Ein Vater hat drei Söhne, die er alle gleichermaßen liebt. Statt seinen Ring einem dieser Söhne zu vererben, lässt er zwei weitere Ringe so genau nach dem Musterring anfertigen, dass niemand, auch er selber nicht, die drei Ringe voneinander unterscheiden kann. Wie mit den drei Ringen, so ist es mit den drei Religionen: Jede ist von Gott gegeben, jede ist von Gott aus Liebe gegeben, und die Religionsgemeinschaften sollen brüderlich, geschwisterlich zusammenleben, denn Gott hat es so gewollt. Als Anregung für Boccaccios Ringparabel verweist man gerne auf den Koran, Sure 5 (Der Tisch), Vers 48: „Für einen jeden von euch haben wir Bahn und Weg gemacht. / Hätte Gott gewollt, er hätte euch zu einer einzigen Gemeinde gemacht – / doch wollte er euch mit dem prüfen, was er euch gab.“

Lessing hat die Ringparabel in Nathan der Weise in einer erweiterten Fassung in den Mittelpunkt gerückt (Akt III, Szene 7) und sie mit einem ausführlichen Ratschlag eines weisen Richters verknüpft, an den sich die zuerst noch streitenden Brüder für eine Entscheidung über den ‚wahren‘ Ring gewendet hatten. Bei Lessing werden die drei Söhne dazu ermahnt, die Ringe mit dem Edelstein ihrer Glaubenswahrheit unter vier Aspekten im Leben zu bewähren:

„Es strebe von euch jeder um die Wette, / die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag / zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut / mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, / mit innigster Ergebenheit in Gott, / zu Hülf’!“ (III/7)

Vor dem Hintergrund von Lessings und Mendelssohns Diskussionen 25 Jahre zuvor kann man hier in der Stimme des Richters ein Echo des Lehrgedichts von Alexander Pope erkennen, obwohl der englische Dichter nur auf die Konflikte zwischen den christlichen kirchlichen Richtungen, nicht auf das Verhältnis zwischen den Religionen Bezug genommen hatte. Denn Pope hatte das Streiten über spezielle Lehrpunkte des Glaubens (modes of faith) gewissenlosen und unbarmherzigen Eiferern (graceless zealots) überlassen und solchem Streit das richtige – d.h., ein überzeugend menschliches – Leben gegenübergestellt:

„For modes of faith let graceless zealots fight; / His can’t be wrong whose life is in the right“ („um Glaubensdifferenzen mögen hartherzige Eiferer kämpfen, [der Glaube] von einem kann nicht falsch sein, dessen Leben richtig liegt“).

Lessing erweitert diese Grundeinstellung mit Bezug auf die interreligiösen Beziehungen zwischen Juden, Christen und Muslimen.

Auch zahlreiche andere Aspekte des Nachdenkens über Religion und Schwärmerei, Religion und Zweifel, Religion und Ritus, Religion und Hochmut, Religion und Bescheidenheit werden in dem Schauspiel zur Diskussion gestellt. Das geht so weit, dass Sittah, die Schwester des Sultans, den Glauben der Christen insgesamt als pervertiert beschreibt: „Ihr Stolz ist: Christen sein; nicht Menschen.“ (II/1) Und noch radikaler will ein entnervter Derwisch überhaupt den Horizont der prophetischen Religionen von Judentum, Christentum und Islam verlassen und sich vom Hof des Sultans in das hinduistische, humanistische Indien flüchten: „Am Ganges, am Ganges nur gibt’s Menschen“ (II/9)! In seiner Gestaltung der Ringparabel im Anschluss an Boccaccio fängt Lessing solche fundamental kritischen Stimmungen dadurch auf, dass er das Wesen der drei Religionen durch einen Edelstein in den Ringen symbolisiert, der die „geheime Kraft“ hat, „vor Gott und Menschen angenehm zu machen, wer (d.h., jeden, der) in dieser Zuversicht ihn trug“ (III/7). Die unumgängliche Frage in einer Religion: Wer ist ein wahrer Diener Gottes?, kann eine glaubwürdige Antwort nur dann finden, wenn sowohl Gott als auch die Menschen geachtet und geehrt werden.

Als eine Dichtung für die Bühne des Theaters ist das Werk Nathan der Weise außerdem durch dramatische Verwicklungen geprägt: Der christliche Kreuzritter ist kein Christ, die jüdische Kaufmannstochter ist keine Jüdin, der muslimische Sultan hatte einen – verschollenen – Bruder, der mit seiner christlichen Frau einen Sohn und eine Tochter hatte – selbst Sittah gerät allmählich in Verwirrung! Und der Bruder von Saladin, der „am liebsten Persisch“ sprach, war ein Freund des Juden Nathan (V/8). Aber Nathan hielt sich bei der Erziehung in vorbildlicher Weise zurück und lehrte seine adoptierte Tochter „von Gott nicht mehr, nicht weniger, als der Vernunft genügt“ (IV/2), weil es keinen Zwang in der Religion gibt und er die Tochter (wie er ja wusste) eines muslimischen Vaters und einer christlichen Mutter nicht zum jüdischen Glaubensbekenntnis drängen wollte. All diese Verwicklungen haben natürlich auch ihre emotionale Seite.

Lessing wurde zu Recht ein Klassiker der deutschen Literatur- und Ideengeschichte: Mit der Ringparabel in Nathan der Weise geht es um die zu jeder Zeit aktuelle Frage nach dem Fundament des Religionsfriedens. Seinen Glauben „mit herzlicher Verträglichkeit“, „mit innigster Ergebenheit in Gott“ leben, „gut handeln“ statt „andächtig schwärmen“, sich nicht vom „Eifer Gottes“ zu Gewaltphantasien treiben lassen – das kann man mit Lessing wohl als vernünftig betrachten. Und als fromm. Und man kann ein solch reflektiertes Verständnis von Religion als den eigentlichen Grund von Judentum, Christentum und Islam (und von weiteren Religionen) erkennen und von diesem Ansatz aus seiner jeweiligen Religion kritisch, konstruktiv und persönlich eine Gestalt geben. Die eigene Verantwortung dafür kann niemand einem Glaubenden, einer Glaubenden abnehmen.

Im interreligiösen Dialog heute ist klar, dass keiner dem anderen seinen ‚Ring‘ wegnehmen will. Die Anerkennung einer Pluralität von Glaubenswegen ist und bleibt der Ausgangspunkt des Dialogs. Von diesem Ausgangspunkt aus entwickelt sich ein gegenseitiges Interesse daran, die Religion des anderen nach Tradition, Ritus und Festen, Lehre, Heiligen Schriften und Schriftauslegung besser kennenzulernen und im Vergleich die „hundert schönen Farben“ des Edelsteins in den metaphorischen Ringen strahlen zu sehen (III/7). Auch kann es im interreligiösen Dialog heute gegenseitige Kritik geben, denn wo die Menschlichkeit verletzt wird, weil religiöse Eiferer und Fanatiker unmenschliche Doktrinen durchsetzen wollen, wird man sich – nach Lessing – gegenseitig daran erinnern, dass eine Religion alle, die ihr anhängen, „vor Gott und Menschen angenehm“ machen soll (III/7). Die Mahnrede des Richters in Lessings Schauspiel Nathan der Weise lässt sich nicht beiseite wischen: Das Theater gibt dem Dialog eine kühle Dynamik.

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