Zum Sterben schön

Auf einem wunderschönen Weinberg in Kassel liegt neben dem neuen Gebrüder Grimm Museum ein weiteres Haus der Kultur: das Museum für Sepulkralkultur. Im hellsten Museum Deutschlands werden die Themen Tod und Bestattung beleuchtet. Wir sprachen mit dem ehemaligen Direktor Prof. Dr. Reiner Hörries über den Tod und darüber, wie die Menschen mit ihm umgehen.

Die Fontäne: Herr Professor Sörries, die meisten unserer Leserinnen und Leser werden mit dem Begriff Sepulkralkultur nicht viel anzufangen wissen. Können Sie kurz erläutern, wofür er steht?

Prof. Dr. Rainer Sörries: Der Begriff Sepulkralkultur leitet sich ab aus dem lateinischen Wort Sepulcrum – Grab, Grabstätte. Der Wissenschaftsbegriff Sepulkralkultur ist jedoch sehr viel umfassender. Er beinhaltet alles, was mit Sterben, Tod, Trauer und Erinnerung zu tun hat, und das macht auch das Besondere dieses Hauses, des Museums für Sepulkralkultur in Kassel aus. Seine Themen sind die Vorbereitung auf das Sterben, die Sterbephase, ebenso wie Trauer, Gedenken, Erinnerung, Bestattung, Denkmalen, Hospiz-Bewegung und Sterbehilfe – also alles, was heute in Verbindung mit dem Tod diskutiert wird, nicht nur die Gräber selbst. Demzufolge ist unter Sepulkralkultur die ganze Bandbreite dessen zu verstehen, was uns der Tod als Aufgabe stellt.

Der Tod ist also das zentrale Thema des Museums für Sepulkralkultur.

Ja, aber um es noch ein wenig präziser auszudrücken: Der Umgang der Menschen mit ihrem Tod, ihrer Endlichkeit. Der Tod selber wird hier nicht ausgestellt, es werden keine Leichen und auch keine Mumien gezeigt.

Die Grundlage jeder Religion ist doch die Frage: Was kommt nach dem Tod?

Alles, was hier präsentiert wird, erzählt davon, wie die Menschen zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Kulturen versuchten und versuchen, mit dem Tod umzugehen, ihn zu erklären, zu begreifen und zu verarbeiten.

Was unterscheidet das Museum für Sepulkralkultur von anderen Museen? Wer sind die Besucherinnen und Besucher?

Zunächst einmal ist dieses Museum ein Museum wie alle anderen Museen auch. Zwar wird es mit Sicherheit als ein spezielles Museum wahrgenommen, aber davon gibt es ja durchaus viele in Deutschland, Knopfmuseen oder Edelsteinmuseen etwa. Nur dadurch, dass der Tod etwas weitaus Existenzielleres ist als etwa ein Knopf oder ein Edelstein, ist es für dieses Museum in mancher Hinsicht schwieriger, mit seinem Thema an Menschen heranzutreten – vielleicht aber auch spannender.
Genau genommen befasst es sich uns eher mit dem Leben als mit dem Tod, daher soll es auch ein Museum für alle Menschen sein. Auf der anderen Seite kommt ein großer Teil der Besucher zugegebenermaßen aus Bereichen, die mit den Themen Sterben und Bestattung eine bestimmte berufliche oder ehrenamtliche Verbindung haben: Menschen beispielsweise, die im Hospizwesen oder in der Pflege tätig sind. Aber natürlich freut man sich über jeden Besucher, der kommt und sagt: Das interessiert mich.

Was fasziniert die Besucher dieses Museums am meisten?

Es lässt sich feststellen, dass die Besucher des Museums in der Regel keine Angst vor dem Gegenstand des Museums haben. Dazu tragen nicht zuletzt die Lage des Museums auf einem Weinberg mit weiter Sicht über die Landschaft und auch die helle, sachliche Atmosphäre unseres Hauses bei. Es hat nichts Morbides oder Gruftiges an sich.

Antworten zu geben, die das Leben nach dem Tod betreffen, ist ein Privileg der Religionen.

Mit seiner Architektur stimmt es die Menschen hoffnungsvoll. Manche Besucher schauen sich die Ausstellung nur interessiert an, andere hinterlassen einen Kommentar oder auch Gebete oder Erinnerungen an einen Verstorbenen im Gästebuch. Oft kommen auch Eltern mit ihren Kindern, sodass hier durchaus auch gelacht wird. Und es kommt die ganze Bandbreite der gesellschaftlichen Schichten und der Altersstruktur. Das gefällt uns.

Sie haben sich bei Ihrer Arbeit mit zahlreichen Bestattungskulturen auseinandergesetzt, insbesondere mit den christlichen. Können Sie uns von früher, christlicher Bestattungskultur erzählen?

Die christliche Bestattungskultur hat natürlich eine lange Geschichte. Als die Menschen im Römischen Reich begannen, ihre Verstorbenen zu bestatten, kümmerte sich plötzlich die Gemeinde als Kollektiv um ihre Toten. Das war etwas Neues in der Menschheitsgeschichte, in der Kulturgeschichte; denn bis in die Antike war dafür immer die Familie verantwortlich gewesen. Über die vielen Jahrhunderte hat sich hieraus unser öffentlicher Friedhof herauskristallisiert; ein Friedhof, auf dem für alle Menschen eine Grabstätte bereitsteht und vorgesehen ist. Dies ist ein Stück christlicher Bestattungskultur; natürlich auch, dass den Menschen durch Verweis auf die biblische Hoffnung der Auferstehung Trost und Sorge um ihre Trauer, Trost und Sorge um ihre Seele zuteilwird. Das sind die zentralen Punkte, die die christliche Bestattungskultur vielleicht einer säkularen voraus hat.

Wodurch zeichnet sich die christliche Bestattungskultur aktuell aus? Welche Trends und Vorlieben existieren?

Zum einen gibt es in unserem Land immer weniger Christen. Ein Drittel ist bereits konfessionslos; aber selbst unter Christen gehen die kirchlichen Bestattungen zurück, unter anderem deshalb, weil die christlichen Pfarrer – und da muss ich mich mit einrechnen, weil ich selber Pfarrer bin – diese Aufgabe häufig zu sehr als eine Routineaufgabe verstanden haben. Doch derzeit habe ich das Gefühl, dass ein Umdenken einsetzt. Ich glaube, dass wir Theologen und Pfarrer im Amt uns gerade neu bewusst machen, dass Bestattung im kirchlichen Sinne ein Werk der Barmherzigkeit ist. Das wurde ja auch schon im Mittelalter so formuliert. Wenn man es genau nimmt, ist die Grundlage jeder Religion doch die Frage: Was kommt nach dem Tod? Von kirchlicher Seite müssen wir erkennen, dass dies eines unserer Hauptstandbeine ist, um überhaupt noch Relevanz in der Gesellschaft zu bewahren. Wir können Diakonie machen, Seniorenheime und Kindertagesstätten unterhalten und so weiter. Das können andere Organisationen auch. Aber Antworten zu geben, die das Leben nach dem Tod betreffen, ist ein Privileg der Religionen. Darauf sollten auch wir als Kirche uns besinnen.

Wenn wir die christliche Bestattungskultur mit anderen Formen der Bestattung vergleichen, stoßen wir auf Differenzen und Parallelen. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede weisen die Bestattungskulturen der Weltreligionen auf? Können Sie uns das an einem Beispiel konkret erläutern?

Zunächst scheinen ja die Verschiedenheiten zu überwiegen. Was man auch hier in der Ausstellung sehen kann: Lauter unterschiedliche Gegenstände, hier ein Kruzifix, dort eine Totentanzfigur, da ein Weihwasserkessel oder ein Rosenwasser für islamische Bestattungen. Aber im Prinzip geht es immer um dasselbe; nämlich um die Möglichkeit, dem Verstorbenen einen Übergang ins Jenseits zu ermöglichen. Ethnologen haben schon vor über 100 Jahren festgestellt, dass dieser Übergang in allen Religionen ein zentrales Thema ist.

In allen Kulturen geht es bei der Bestattung im Prinzip immer um das selbe, dem Verstorbenen einen Übergang ins Jenseits zu ermöglichen.

Der französische Ethnologe Arnold van Gennep prägte Anfang des letzten Jahrhunderts dafür den Begriff rite des passage; und auch ohne Französisch-Kenntnisse begreift man sofort: Im Mittelpunkt steht diese Passage – für die Verstorbenen, aber auch für die Hinterbliebenen, die sich durch den Tod ja nun in einer neuen Situation, in einer neuen Rolle wiederfinden. Die mit der Bestattung verknüpften Riten sollen auch ihnen dabei helfen, diese neue Rolle anzunehmen und einzuüben, um anschließend ihr Leben wieder konkret weiterführen zu können. Das ist die Grundlage von Bestattungskultur in allen Religionen.
Vielleicht noch eine Parallele: In der modernen Trauer-Psychologie wird heute häufig gesagt, dass Trauer unter Umständen sehr lange dauert, dass sie individuell ist und sich so viel Zeit nimmt, wie sie braucht. Judentum, Christentum und Islam hingegen waren sich immer einig darin, dass Trauer zeitlich beschränkt sein sollte, damit der Trauernde wieder ins Leben zurückkehren kann.

Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach Sterben, Tod und Bestattung in unserer Gesamtgesellschaft?

Gegenwärtig wird dem Sterben und dem Tod in unserer Gesellschaft wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt. In den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg, nach Schrecken, Holocaust und Zerstörung, haben wir den Tod an die Seite gedrängt, ebenso wie auch die Verbrechen des 3. Reiches. Damals waren wir mit anderen Dingen beschäftigt. In Zeiten des Wirtschaftswunders war für Sterben und Tod kein Platz.

Judentum, Christentum und Islam waren sich immer einig darin, dass Trauer zeitlich beschränkt sein sollte.

Aber seit Mitte der 80er Jahre ist ein stetes Ansteigen der Beschäftigung mit diesen Themen, auch der Diskursfähigkeit der Gesellschaft zu beobachten. Einer der ausschlaggebenden Gründe dafür war das Aufkommen der Hospiz-Bewegung, die uns sensibilisiert hat für den Status des Sterbens und des Sterbenden. Seitdem wird immer mehr über diese Themen diskutiert – Stichwort: Patientenverfügung, Organtransplantation oder aktuell die Diskussion um die Sterbehilfe. Es gibt also viele gesellschaftspolitische Themen, die uns geradezu nötigen, uns mit ihnen zu befassen.

Welche Rolle nehmen diese Phänomene für Sie ganz persönlich ein? Inwiefern verorten Sie die Vergänglichkeit des menschlichen Seins in Ihrem Alltag?

Viele vertreten ja die Meinung, dass wir den Tod nicht verdrängen dürfen, dass wir ihn mitten ins Leben hinein holen müssen. Ich dagegen kann nur sagen: Ich danke meinem Schöpfer dafür, dass es uns Menschen trotz des Bewusstseins unserer Sterblichkeit geschenkt ist, dass wir den Tod auch verdrängen dürfen. Wenn ich täglich an den Tod und an meine Ende denken würde und müsste, hätte ich ja gar keine Lebensperspektive mehr. In meinen Gedanken spielt der Tod, mein eigenes Sterben, zumindest gegenwärtig eine untergeordnete Rolle, weil ich nach wie vor versuche – auch über 60-jährig – Pläne haben zu dürfen, von denen ich hoffe, dass der Tod sie nicht durchkreuzt. Deswegen spielt der Tod für mich, vielleicht auch gerade weil ich an solch einem Museum für Todeskultur arbeite, eine eher geringe Rolle.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, Wünsche in Bezug auf das Museum zu formulieren, welche wären das?

Zunächst einmal würde ich mir wünschen, dass sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Kreativität bewahren, die sie bis jetzt an den Tag gelegt haben; dass sie sagen: Wir wollen aus diesem Museum etwas machen. Dann würde ich mir wünschen, dass die Besucher die hier geleistete Arbeit auch weiterhin interessant und spannend finden; und außerdem, dass die Geldgeber – im Wesentlichen der Bund, das Land Hessen, die Stadt Kassel und die Evangelische und die Katholische Kirche – das Haus nach wie vor auch unterstützen.

Haben Sie vielleicht noch eine abschließende Botschaft für unsere Leserinnen und Leser?

Ja. Kommen Sie ins Museum für Sepulkralkultur nach Kassel, schauen Sie sich hier um und hinterlassen Sie vielleicht einen Kommentar im Gästebuch.

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