Die Verantwortung von Führungspersönlichkeiten und die Bedeutung von Konsultationen

Von Hikmet Işık

Wir haben ein reiches kulturelles Erbe, starke Werte und äußerst fundierte Referenzquellen. Wir haben Regeln und Richtlinien, mit deren Hilfe wir unsere Taten, Worte und Aussagen ermessen und abwägen können. Wir haben Maßregeln und Prinzipien, die unserem Leben Sinn und Richtung geben. Wir sind die Kinder einer Kultur, einer Zivilisation, die in der Geschichte starke Staaten aufgebaut und der Religion des Islams wichtige Dienste geleistet hat. Wenn wir all diese Dynamiken angemessen zu nutzen vermögen, werden wir – mit Gottes Einverständnis – ohne fehlzugehen unseren Weg und unsere Richtung bestimmen.

Religionsinterpretation und die Philosophie der Sira

Wir sollten nicht vergessen, dass wir heute in einer ganz anderen Welt leben. Wir haben zwar universelle Werte, müssen sie aber zeitgemäß interpretieren. Wir müssen gut verstehen, welche Linie gestern verfolgt wurde und welche heute. Dann gilt es, den Unterschied zwischen diesen beiden Linien berücksichtigend die Dinge erneut zu bewerten.

Um den Islam neu interpretieren und ihn in Übereinstimmung mit heutigem Verständnis präsentieren zu können, ist es meines Erachtens sehr wichtig, eine tiefgehende Kenntnis der Philosophie der Sira zu besitzen. Man sollte die Grundphilosophie des Lebens unter der Führung unseres Herrn im Zeitalter der Glückseligkeit verstehen und sie heutigen Bedingungen anpassen. Es mag im Hinblick auf den Geist der Religion nicht angebracht sein, das Zeitalter der Glückseligkeit Wort für Wort, Millimeter für Millimeter auf heute zu übertragen und anzuwenden. Es gilt, damalige Ereignisse mitsamt ihren Hintergründen richtig zu erfassen, wichtige Regeln und Normen daraus abzuleiten und sie dann auf die Gegenwart anzuwenden. Wenn man das tut, kann man in Übereinstimmung mit dem Geist der Religion Vorgehensweisen und Methoden für viele notwendige Themen – wie den Kampf gegen das Böse, Anleitung und Verkündung, Toleranz und Dialog – festlegen.

Es ist sehr wichtig, dass die Regeln zeit- und konjunkturbezogen interpretiert und heutigen Gegebenheiten angepasst werden. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass das keine leichte Aufgabe ist. Wenn der Koran und die Sunna nicht aus einem universellen und spirituellen Blickwinkel betrachtet werden und der Geist der Religion nicht verstanden wird, kommt man zu Fehlschlüssen. So wie man einen kleinen Gotteslohn nicht unterschätzen sollte, sollten auch kleine Fehler und Irrtümer nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Ignoriert man kleine Fehler, können große Fehler passieren, die nicht nur Einzelpersonen betreffen, sondern eine ganze Gesellschaft zerstören können.

Wie bedeutend etwas ist, kann man ein Stück weit erkennen, wenn man die Sache weiterdenkt. Manchmal erzeugt ein kleiner Sprung in der Mitte einen großen Riss am Rand. Das könnte ein kleiner Fehler in einer Angelegenheit sein, die auch andere betrifft, beispielsweise indem man bei einer Entscheidung andere nicht konsultiert und sich stattdessen nach eigenen Ansichten und Gefühlen richtet und so den „Hügel der Bogenschützen“1 verlässt. Aber das würde sehr schwere Folgen haben. Auf Beratung und Konsultation eines Gremiums zu setzen ist daher, wie wir nicht müde werden zu betonen, der sicherste Weg. Denn die Wahrheit kommt durch den Austausch von Ideen und Meinungen ans Licht. Wird die Sache jedoch der Initiative eines Einzelnen überlassen, ist die Fehlerwahrscheinlichkeit hoch.

Der Position gerecht werden

Für Menschen, die in Führungspositionen sind, bedeutet das viel Arbeit. Ihre Ansichten, Kommentare, Darstellungen, Einstellungen und Verhaltensweisen sind sehr wichtig, denn andere werden ihnen folgen. Wenn sie die richtige Richtung verfolgen, werden andere ihnen folgen. Das Gleiche gilt, wenn sie im Zickzack laufen und Fehler machen – auch dann wird man ihnen folgen. Darüber hinaus werden ihre Fehler oder ihre Verhaltensweisen, die falsch interpretiert wurden, immer größer, je öfter sie von denen nachgeahmt werden, die ihnen unterstehen. Das sollten Führungspersönlichkeiten beim Reden und Handeln berücksichtigen, damit sie – wie Niyazi Misrī sagte – die ihnen Folgenden nicht irreführen, sondern ihnen als perfekte Wegweiser die richtige Richtung vorgeben und sie zu den richtigen Zielen führen.

Leider werden manche in hohen Positionen ihrer Stellung nicht gerecht, sind intellektuell überfordert und nicht in der Lage, Einstellungen und Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die ihrer Stellung angemessen wären. So entstehen Brüche und Verwerfungen in der Gesellschaft. Verschrobene Gedanken, aus Versehen geäußerte Worte und zu viele Worte oder Aussagen, die den Zweck verfehlen, verursachen schwerwiegende Folgen bei denen, die in ihnen unterstehen. So wie aus zehn Kilogramm schnell vierzig Kilo werden, wenn ein Gewicht aus zwei Metern Höhe herunterfällt, kann es in der Gesellschaft Groll und Hass hervorrufen, wenn ein unangemessenes Wort oder eine solche Einstellung von Menschen in Führungspositionen kommen. Daher sollten Personen, die an der Spitze stehen – ganz gleich wo – sehr, sehr vorsichtig mit ihrem Verhalten sein.

Damit es einem hinterher nicht leidtun muss

Es gilt für uns alle, aber insbesondere für Führungskräfte: Sie müssen ihr Leben so führen, dass sie rückblickend keine nicht wiedergutzumachenden Fehler im Hinblick auf sich selbst und die Gesellschaft erkennen und sagen müssen „Ich wünschte, ich hätte dieses oder jenes anders gemacht …“. Es nützt niemandem, über Vergangenes zu jammern. Wichtig ist, dass wir unser jetziges Leben mit Bedacht leben und versuchen, unsere Worte, Einstellungen und Handlungen so auszurichten, dass wir in Zukunft nicht das Bedürfnis haben, sie korrigieren zu müssen.

Konsultation bewahrt uns vor Fehlern und sichert den Fortbestand geleisteter Arbeit. Wir werden nicht müde, zu wiederholen: „Frag jemanden, der sich auskennt; zwei Köpfe sind besser als einer.“ Gerade diejenigen, die Führungspositionen innehaben, sollten sich bemüßigt sehen, die Meinungen anderer zurate zu ziehen, wenn sie mit einer Sachlage konfrontiert werden. Worum es auch immer geht, sie sollten Ausschüsse bilden, die sich aus Personen zusammensetzen, die über die nötige Expertise und Erfahrung verfügen, und sollten keine Entscheidungen treffen, ohne sie konsultiert zu haben. Sie sollten durch Beratung versuchen, die vernünftigste und angemessenste Lösung zu finden. Insbesondere Angelegenheiten, die die Öffentlichkeit betreffen, dürfen nicht der Initiative eines Einzelnen überlassen werden. Andernfalls könnte versehentlich gegen das Recht der Allgemeinheit verstoßen werden. In der islamischen Normlehre wird das Recht der Öffentlichkeit – da der Rechteinhaber nicht personifiziert ist und der Allgemeinheit gehört– als das Recht Gottes betrachtet. So bedeutend ist dieser Umstand also.

Leider sagen manchmal Leute, die Führungspositionen innehaben: „Keiner kennt sich besser aus als ich.“ Sie handeln nach eigenem Gutdünken und begehen einen Fauxpas nach dem anderen. Sie glauben nicht, dass es jemanden geben könnte, der klüger ist als sie, der genauer hinschaut. Aber Entscheidungen eines Komitees werden viel näher am Richtigen und weiter weg vom Falschen sein als die Entscheidungen einer einzelnen Person. Denn ganz gleich, wie schlau eine Person ist, sie hat nur einen eingeschränkten Blickwinkel und denkt am Ende vielleicht, ihre Verdorbenheit (mefsedet) diene dem öffentlichen Interesse (maṣlaḥa).2 Oder das, was sie als maṣlaḥa betrachtet, ist eigentlich maṣlaḥat-ı merdude – etwas, das von der islamischen Normlehre abgelehnt wird, weil es Verdorbenheit im Gewand von maṣlaḥa ist. Auch Faktoren wie Egoismus, Faulheit, Sturheit, Angst und Profitgier können Menschen vom Weg der Vernunft abbringen. Aus diesem Grund ist es die Pflicht von Führungspersönlichkeiten, andere zu konsultieren und Entscheidungen in Absprache zu treffen, statt sich auf ihre eigene Intelligenz zu verlassen.

Wer sich von schirk fernhalten will, sollte das Wörtchen „wir“ kennen. Der Koran lehrt uns das. In der Sure Fatiha, die wir vierzig Mal am Tag in unseren Gebeten rezitieren, heißt es: „Dir allein dienen wir, und dich allein bitten wir um Hilfe.“ Wir verwenden den Plural, nicht den Singular. Denn der Mensch kann nur dann hoffen, dass Gott ihm Erfolg schenkt, wenn er für echte Einheit im Glauben sorgt, große und schwere Lasten mit anderen teilt und die guten Taten seiner Freunde in seinen eigenen Pool guter Taten einfließen lässt.

Ob Menschen in hohen Positionen das Jenseits erreichen, hängt davon ab, inwieweit sie es schaffen, gewissermaßen ungeachtet ihrer selbst zu leben. Wenn sie für ihr nefs, ihren Körper, ihren Intellekt, ihren Profit leben, verlieren sie. Der Gesandte Gottes (Friede sei mit ihm) erwähnt zuerst den gerechten Herrscher, wenn er über die sieben Gruppen spricht, die sich im Schatten des Throns Gottes aufhalten. Für eine Führungspersönlichkeit, die die Macht repräsentiert, die über alle Möglichkeiten verfügt und der Annehmlichkeiten nur so zufließen, bedeutet es eine große Herausforderung, sich von Recht und Gerechtigkeit leiten zu lassen, von Rechtschaffenheit, Güte und Menschlichkeit. Sie muss über ihren Schatten springen. Wenn sie diesen Test besteht und diese Herausforderung erfolgreich meistert, werden ihr im Jenseits die besonderen Gunstbezeugungen Gottes zuteil. Einer der wichtigsten Wege, wie sie ihrer Stellung gerecht werden und für Gerechtigkeit sorgen kann, ist, eigene Ideen, Entscheidungen und Präferenzen durch den Filter der Konsultation laufen zu lassen – man kann es auch „Beratungskalibrierung“ nennen. Das Finden der wahren Stimme, des wahren Tons, des wahren Signals hängt von der Kalibrierung der Sache durch Konsultationen ab. 

Anmerkungen

Bei der Schlacht am Uhud platzierte der Prophet (Friede sei mit ihm) Bogenschützen an den Hängen des Berges, um einen Angriff von hinten abzuwehren. Er sagte den Muslimen, sie sollten ihren Posten am Hügel nicht verlassen, bis er den Befehl dazu geben würde (Anm. d. Red.).

Maṣlaḥa (wörtlich „öffentliches Interesse“) ist Teil der islamischen Rechtsprechung (uṣūl al-fiqh) und bezeichnet das Verbot oder die Erlaubnis einer Sache im Hinblick darauf, ob sie dem öffentlichen Interesse der Umma dient (Anm. d. Red.).

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