Das Rätsel Mensch (3)

Der Mensch als Schöpfung gleicht einem Mikrokosmos und ist als Abbild der Welt zu verstehen. Er kann in der Schöpfungskette entweder die höchste Höhe erreichen oder in die tiefste Tiefe stürzen. Um nicht in diesen Abgrund zu stürzen, sollte er Herz und Seele vor Dreck und Rost beschützen und sein Inneres von egoistischen Begierden befreien.

Der Mensch ist aus einer Perspektive das letzte Glied der Schöpfungskette. Die Schöpfung vollzieht sich von Ewigkeit zu Ewigkeit. Der Mensch nimmt mit seinem Wert, den ihm Gott zuspricht, in seiner Gesamtheit und seinen Wechselbädern zwischen der tiefsten Tiefe (esfel-i sāfilīn) und der höchsten Höhe (aʿlā-i illiyyīn) einen außergewöhnlichen Platz ein. Manchmal übersteigt er den Horizont von Engeln und setzt sich auf den Thron der Nähe Gottes, manchmal stolpert und fällt er nur und erfreut so die Satane, die Widersacher. Es ist ein Zeichen des Selbstrespekts, dass der Mensch so verständig ist, sich dem Jenseits zu öffnen, und lässt damit sogar Geistwesen vor Neid erblassen; respektlos dagegen ist es, die üblen Seelen zu erfreuen und entgegen seiner Natur als schönste und wertvollste Schöpfung (aḥsen-i taqvīm) zu handeln. Er ist so erschaffen worden, dass er in der Lage ist, sich seiner außergewöhnlichen Stellung vor Gott, den Engeln, vor sich selbst und der gesamten Menschheit angemessen zu verhalten. 

Da der Mensch zuallererst ein Hauch des göttlichen Geistes ist, ist er verpflichtet, aus Respekt davor darauf zu achten, im Herzen und in der Seele nicht zu verrosten. Dieser spirituelle Rost würde ihn daran hindern, wachsam und besonnen zu sein. Er würde ihn in den Abgrund der Vergesslichkeit stürzen und ihn von der Freundschaft und der Nähe Gottes fernhalten. Um nicht in diesen Abgrund zu stürzen, ist es unabdingbar, dass der sich an einer Weggabelung befindliche Reisende die Einzigkeit Gottes bedenkt, Gottes gedenkt und darauf aufbauend Ideen entwickelt, unentwegt mit seinem Selbst abrechnet und seine Position im Vergleich zum Wahren ständig überprüft. Und all das muss im Bewusstsein der Gottesallgegenwart vonstattengehen, sonst wäre es unvollständig. Ein Leben, dass sich nicht auf diese Prinzipien gründet, und ein Nichtabweichen vom Weg auf der Reise zu Gott ist sehr schwer, es ist schier unmöglich.

Die Schöpfung ist ein Makrokosmos, der Mensch ein Mikro- oder gar ein Normkosmos. Diese Miniaturwelt, die einem Inhaltsverzeichnis gleicht, ist ein Abbild der großen, ineinander verflochtenen Welten und in gewisser Weise ihr Extrakt. Dennoch beinhaltet dieser Minikosmos im Hinblick auf den Gehalt, die Mission und seine Spiegelung der Wahrheit der Wahrheiten die gesamte Bedeutung des Kosmos. Der Mensch stellt gewissermaßen den Reichtum des Extraktes der Dinge dar, die wir ansatzweise über Gott wissen. Der Dichter Mehmet Akif Ersoy fasst die treffenden Worte des ehrwürdigen Ali zu diesem großen Thema so zusammen:

 Du bist dir deiner selbst nicht bewusst und sagst dennoch immerzu: ‚Ich bin eine verächtliche Kreatur!‘ O Mensch, wenn du wüsstest, dass dein Wesen noch über dem der Engel steht, der Kosmos in dir verborgen ist und Welten in dir eingewickelt sind.“

Der begrenzte Blickwinkel der meisten Menschen und ihre Unvernunft machen sie unwissend hinsichtlich ihrer erhabenen Stellung in der Schöpfung. Die Menschen nähern sich der Thematik aus rein materieller, körperlicher Sicht, beurteilen das menschliche Wesen aus ihrem engen Gesichtskreis heraus. Gott jedoch möchte, dass der Mensch sich richtig liest, und führt ihn mit dieser Fertigkeit zur Dienerschaft Seiner Selbst hin. Hier das himmlische Zeugnis: 

 Ich habe die Dschinn und die Menschen nur erschaffen, damit sie Mich erkennen und Mich anbeten.“

Edh-Dhāriāt, 51:56 

Wie seltsam: Man beurteilt den Menschen – ein ehrwürdiges und edles Wesen, das Gott, der Barmherzigste aller Barmherzigen, mit einer so spirituellen Tiefe erschaffen hat – aus einer engen Fleischlichkeit und Körperlichkeit heraus, erniedrigt ihn aus einer überaus wertvollen Stellung zu einem rein fleischlichen Wesen und macht ihn zu einem Element der Gottesleugnung, das Gott Partner beidichtet und vom Weg abgekommen ist. Man hat den Menschen im Hinblick auf das Herz, die Seele, die spirituellen Geheimnisse und weitere tiefe Erkenntnisse förmlich in ein wandelndes Grab verwandelt.

Würden sich diese Personen doch nur bemühen, so wie sie bei körperlichen Beschwerden zu einem Facharzt gehen, sich auch im Hinblick auf den Zustand ihres Herzens, ihrer Seele und anderer lieblicher Gefühle frei zu machen von Ogern, die ihnen mit Stolz, Hochmut, Selbstverliebtheit, Arroganz und Vorurteilen den Weg der objektiven Meinungsbildung abschneiden. Dazu müssten sie Schutz suchen in den Gewächshäusern des gesunden Menschenverstandes, gesunder Herzen, gesunder Seelen und gesunder Emotionen und sich so frei machen von der irreführenden Atmosphäre dieser Wegelagerer des Geistes.

Das alles ist zwar möglich, aber nicht sehr einfach. Denn die Menschen haben sich in den Strudel egoistischer Begierden begeben und das Ziel aus den Augen verloren. Sie beten das Ego förmlich an und kennen nichts außer ihren Begierden, denen sie blind folgen und so, unwissend um die schrecklichen Folgen, dem Ozean der Degeneration entgegentreiben. Ein arabischer Dichter drückt es so aus: „Die Schlange egoistischer Begierden hat mich vergiftet; was kann ein Arzt oder Zauberer jetzt noch ausrichten?“

Solche Menschen sollten sich eilends in tiefem Bedauern dem reinigenden Wasserbecken der Reue zuwenden und zu Gott umkehren; wenn ihnen das nicht gelingt, werden sie als einsam in Herz und Seele gelten. 

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