Die Organisation, die den Islam tragen kann
Von Hikmet Işık
Frage: „Es wird gesagt, dass der Islam nur von einer Organisation getragen werden kann, die die geistige Zusammenfassung der gesamten Existenz darstellt und aus Verstand, Gewissen, Seele, Körper und göttlicher Feinheit des Herrn (latife-i rabbaniye) besteht. (In: Gülen, M. Fethullah, Die Statue unserer Seele, 1/27) Was möchte damit gesagt werden?“
Antwort: Die in der Frage genannten Aspekte, die die unterschiedlichen Tiefen des Menschen beschreiben, sind die zentralen Bausteine für das Verständnis und die Vermittlung des Islams.
Der Verstand, um das Gesehene und Gehörte richtig zu erfassen
Wenn wir zunächst auf den Verstand blicken, so stellen wir fest, dass er eine entscheidende Funktion erfüllt, um zwischen Gut und Böse sowie Nützlichem und Schädlichem zu unterscheiden – vorausgesetzt, er wird unter der Leitung von Herz und Seele richtig genutzt. Rationalisten jedoch haben den Verstand überbewertet und ihn – so wie heutige Neorationalisten – sogar als eine unabhängige Quelle außerhalb der Offenbarung (über den Koran und die Sunna) gestellt.
Diese extreme Sichtweise hat auf der Gegenseite zu einer völligen Ablehnung des Verstandes geführt. Diese Übertreibung (ifrat) hat also den Gegenpol Untertreibung (tefrit) hervorgerufen.
Betrachtet man den Zustand der islamischen Gemeinschaft heute, wird deutlich, wie sehr der Verstand mit der Gesamtheit seiner Funktionen vernachlässigt wurde und dass es eine Tendenz hin zum mangelnden Gebrauch der Vernunft gibt.
Dabei gibt es eine wichtige Weisheit für die Erschaffung des Verstandes: Er ist die Grundlage der Verantwortung und der Gottesdienerschaft. Ohne den Verstand wäre dem Menschen das Privileg versagt geblieben, direkter Adressat Gottes zu sein.
Gott kommuniziert mit dem Menschen aufgrund seines Verstandes. In gewisser Hinsicht schließt Gott mit dem vernunftbegabten Menschen Bünde und Verträge.
Zum Beispiel sagt der Koran: „Gedenkt Meiner, so gedenke Ich eurer“1 und „Erfüllt Mein Bündnis, so will Ich auch euer Bündnis erfüllen“.2 Das Verstehen und Umsetzen dieser Verse ist jedoch an den Verstand gebunden.
Ob Gott jemanden ohne Verstand im Jenseits in sein Paradies aufnimmt, ist eine andere Angelegenheit, die in Gottes Weisheit liegt. Doch es ist wichtig zu betonen, dass der Mensch erst durch seinen Verstand die Ehre erlangt, von Gott angesprochen zu werden, die göttlichen Gebote zu verstehen und danach zu leben. Dies ist von großer Bedeutung, um den Stellenwert und die Bedeutung des Verstandes in der Religion zu erkennen.
Zudem ist der Verstand entscheidend, um das Gesehene und Gehörte richtig zu erfassen. Jedoch hat der Verstand einen bestimmten Rahmen und somit auch seine Grenzen. Solange er nicht durch die Maßstäbe der göttlichen Kriterien geprüft wird, kann er stets irren.
Deshalb muss man dem Verstand den ihm gebührenden Wert beimessen. Wenn man ihn andererseits in manchen seiner Funktionen einschränkt, und er somit nicht alle seine Funktionen entfalten kann, lähmt man einen Teil des gesamten Mechanismus oder Systems, über den man verfügt. Daher kann ein solches System seine erwartete Funktion nicht erfüllen. So wie ein Auto, das zwar alle Teile besitzt, aber ohne Gaspedal nicht fahren kann, wird auch das gesamte menschliche System gelähmt, wenn der Verstand – als ein Grundelement – seine Aufgabe nicht erfüllt.
Das Gewissen als Filter von Ereignissen der äußeren Welt
Das Gewissen ist ein weiteres zentrales Element dieses Systems. Der ehrwürdige Großmeister [Bediüzzaman Said Nursi] beschreibt das Gewissen als eine Struktur aus vier Elementen: Empfindungen und Wahrnehmungen (his), Wille (irade), Bewusstsein (schuur) und die göttliche Feinheit (latife-i rabbaniye) (Bediüzzaman, Hutbe-i Şamiye).
Die sog. göttliche Feinheit (latife-i rabbaniye) besitzt eine eigene Tiefe und umfasst weitere Stufen wie das „Geheimnis“ (sır), sowie das auf die göttlichen Eigenschaften gerichtete „Verborgene“ (hafi) und die Tiefen des „Verborgensten“ (ahfa), welches als Horizont für die Suche nach dem unvergleichlichen, reinen und unbegreiflichen Wesen Gottes (Zât-ı Baht) betrachtet werden kann, das über alle Eigenschaften und menschlichen Vorstellungen hinausgeht.
Dass einfache Menschen (ummi) wie wir von diesen Angelegenheiten keine Kenntnis haben, bedeutet nicht, dass sie nicht existieren. Denn jene, die diese spirituellen Horizonte erreicht haben, haben uns durch ihre geistigen Erfahrungen davon berichtet.
Wenn all diese Elemente des Gewissens zusammenwirken, entsteht das „Hads“ (eine innere Intuition), wie der ehrwürdige Großmeister [Bediüzzaman] betont.3
Man kann dies auch als innere Intuition, innere Bewertung oder innere Analyse bezeichnen. Der Mensch filtert damit die Ereignisse der äußeren Welt und erfasst sie auf richtige Weise.
Auch wenn nur eines dieser Elemente vernachlässigt wird, kann das Gewissen nicht mehr richtig funktionieren. Schaltet man das Gewissen als einen zentralen Mechanismus des psychischen Organismus aus, lähmt man damit den gesamten Menschen. Dann spielt es auch keine Rolle mehr, wie schön sein Körperbau, seine Gesichtszüge oder die Form von Augen, Ohren, Lippen, Zunge und Nase sind.
Die Seele und der subtil göttliche Sinn
Die Seele ist eines der wichtigsten Grundelemente in diesem komplexen System und steht über der göttlichen Feinheit (latife-i rabbaniye). Die spirituellen Meister sagten, dass die Route der spirituellen Vervollkommnungsreise von der so genannten göttlichen Feinheit zur Seele verläuft.
Die Seele besitzt etwas Göttliches. Da die Seele als göttlicher Hauch vom Wahrhaftig Einen betrachtet wird, ist sie ein frisches, tauglänzendes Geschenk, das aus der göttlichen Sphäre zu uns gekommen ist. Durch sie werden wir empfunden und wahrgenommen, durch sie werden wir erkannt, gesehen und beschützt. Sie ist ein uns von Gott anvertrautes Treuhändergut. Daher ist der Sprung vom subtil göttlichen Sinn (latife-i rabbaniye) oder der sogenannten göttlichen Feinheit hin zum Horizont der Seele in erster Linie ein Ausdruck des Respekts gegenüber diesem göttlichen Hauch, der uns von Gott anvertraut wurde.
Gleichzeitig ist dies ein Horizont (ein Ziel). Nur diejenigen, die den Seelenhorizont erreichen, können seine Göttlichkeit vollständig empfinden. Da es eine bedeutende Ehre ist, mit dem subtil göttlichen Sinn gewürdigt zu werden, können diejenigen, die dort nur kriechen und den Seelenhorizont nicht erreichen, von dieser Göttlichkeit nicht viel empfinden und wahrnehmen.
Der Körper als Teil des Systems
Hinzu kommt noch der physische Körper des Menschen. So wie die Systeme, die die spirituelle Seite des Menschen ausmachen, wie Verstand, Gewissen, Herz und Seele, von großer Bedeutung sind, hat auch der Körper, der die materielle Seite des Menschen bildet, seine eigene, besondere Bedeutung. Vor allem hängt die Fähigkeit, Gott zu dienen und gottesdienstliche Handlungen wie Hauptgebet, Fasten und Pilgerfahrt auszuführen, davon ab, dass dieses System ihrem Zweck entsprechend betrieben wird (Verstand – Gewissen – Herz – Seele – Körper).
Wir sind uns weder darüber im Klaren, was durch das Hauptgebet, das demutsvolle Stehen vor Gott oder das Rezitieren des Korans bewirkt wird, noch wissen wir, wie diese Handlungen auf uns zurückwirken werden.
Aus den Hadithen erfahren wir, dass ein Hauptgebet, das ohne die gebührende Aufmerksamkeit verrichtet wird, im Jenseits dem Menschen ins Gesicht geworfen wird. Wenn das Hauptgebet jedoch in Übereinstimmung mit seinen Voraussetzungen und Grundpfeilern vollzogen wird, wird es ein vertrauter Begleiter sein und ihn auf seiner Reise durch die Zwischenwelt (Berzakh-Ebene) nicht allein lassen.4
Auf der anderen Seite diszipliniert ihr durch das Hauptgebet sowie durch alle anderen gottesdienstlichen Handlungen, die ihr mit eurem Körper verrichtet, euren Körper.
Gottesdienste können aufgrund ihrer physischen und anatomischen Struktur dem Menschen gewisse Vorteile bringen. Doch basieren sie nicht auf der Grundlage solcher Weisheiten und Nutzen. Vielmehr wurden sie festgelegt, damit der Mensch würdig wird, ins Paradies einzugehen, im Paradies die Ewigkeit zu erlangen, mit der Schau Gottes beschenkt zu werden und eine Reife zu erreichen, mit der Gott zufrieden ist. Ihr Nutzen wird erst im Jenseits erkannt.
Das bedeutet, dass gottesdienstliche Handlungen wie das Hauptgebet, das Fasten und die Zekat zwar einige weltliche Vorteile und Nutzen für die Disziplinierung des Nefs mit sich bringen können, doch ihr eigentlicher Lohn wird sich im Jenseits zeigen.
In diesem Sinne ist der Körper eine der größten Gaben, die Gott dem Menschen geschenkt hat, da er dem Menschen ermöglicht, im Jenseits zum Ort der Manifestation all dieser Schönheiten zu dienen. Die Betonung, dass der Körper eine göttliche Gabe ist, begann erstmals mit dem ehrwürdigen Adam (Friede sei mit ihm). Gott befahl den Engeln, sich vor Adam niederzuwerfen, und alle Engel – außer Iblis, der auch bei ihnen war – gehorchten diesem Befehl und warfen sich vor ihm nieder.5 Iblis hingegen ließ sich von Stolz, Hochmut und Egoismus leiten und verweigerte den Gehorsam. Die geistigen Wesen und Engel erkannten jedoch Adams Weite, verstanden die Feinheit des Gehorsams gegenüber dem göttlichen Befehl und warfen sich nieder.
Dies ist also der Akt, mit dem Gott durch den Körper des ehrwürdigen Adam Respekt in den Seelen erweckte. Wie ich schon bei verschiedenen Gelegenheiten betont habe: Wäre es erlaubt, jemand anderem als Gott gegenüber Niederwerfung zu zeigen, so wäre es dem Menschen gegenüber geschehen. Denn er ist in seiner inneren und äußeren Veranlagung ein monumentales Wesen.
Die Engel verstehen aufgrund ihrer Beschaffenheit die Feinheiten des Gehorsams gegenüber dem göttlichen Befehl, kennen die Geheimnisse des Gott-Seins, leben in ständiger Verbindung zur metaphysischen Welt und können sich zur gleichen Zeit an vielen Orten befinden.
Doch die Besonderheiten der materiellen Welt können sie nicht vollständig empfinden.
Aus diesem Grund waren sie angesichts eines so eigenartigen Wesens wie dem Menschen überrascht und sagten: „Willst Du etwa jemanden erschaffen, der auf der Erde Unheil stiftet und Blut vergießt?“.5
Denn der Mensch ist ein Wesen, in dem es vor Begierden, Egoismus, Selbstlob, Zorn und Rationalität brodelt, und er ist dadurch von Natur aus auch für schlechte Neigungen empfänglich. Doch wenn er sich in all diesen Eigenschaften erzieht und unter Kontrolle bringt, kann er sich plötzlich zu einem Diener Gottes erheben, der von Ihm anerkannt, geliebt und gelobt wird. Gott erschafft durch all diese relativen Übel Gutes. Das bedeutet, dass die Engel diese Seite des Menschen nicht erkennen.
Der Mensch bringt sowohl durch seine geistige als auch durch seine körperliche Veranlagung und das Zusammenspiel dieser beiden Aspekte im Detail Bedeutungen zum Ausdruck, die mit Büchern nicht beschrieben werden können.
Die wahre Washeit des Islams sowie sein tiefes und weites Verständnis, seine Praxis und seine Vermittlung sind nur möglich, wenn alle Elemente dieser Ganzheit berücksichtigt und jedes an seinem richtigen Platz verwendet wird, ohne etwas zu vernachlässigen. Ja, Verstand, Gewissen, Seele und Körper müssen alle entsprechend dem Zweck, für den sie erschaffen wurden, wie die früheren Gelehrten sagten, „ma khuliqa leh“, also in Übereinstimmung mit ihrem Schöpfungsziel, eingesetzt werden. Denn wenn der Mensch auch nur eines davon vernachlässigt, ist es ihm nicht möglich, die ihm auferlegte Aufgabe und Mission in seiner ganzen Wahrhaftigkeit zu erfüllen.
Anmerkungen
Sure al-Baqara, 2/152
Sure al-Baqara, 2/40
Sözler, 15. Söz, 2. Basamak
Vgl.: Ahmed ibn Hanbel, el-Musned 6/352; Abdurrazzaq, el-Musannaf 3/56
Siehe: Sure el-Baqara, 2/34
Sure al-Baqara, 2/30