Systematisches Lesen

Von Hikmet Işık 

In den fünfziger und sechziger Jahren gab es nur wenige Zeitschriften und Bücher, die unseren spirituellen und kulturellen Wurzeln nicht fremd waren und unsere Gedankenwelt widerspiegelten. Hätte man fünf oder sechs Stunden am Tag mit Lesen verbracht, man hätte sie alle lesen können. Heute jedoch werden so viele Werke veröffentlicht – sei es aus rein wirtschaftlichen Gründen oder um einen Beitrag zum wissenschaftlichen und intellektuellen Leben zu leisten –, dass es wirklich schwierig ist, am Ball zu bleiben. 

Zudem gibt es anderweitige Ablenkungen, die uns beschäftigt halten. Daher ist es sinnvoll, bei der Auswahl von Büchern, die man lesen möchte, möglichst selektiv vorzugehen. Vorrang sollten Werke haben, die sich mit Glaubensfragen und dem Islam beschäftigen, also mit unseren spirituellen Wurzeln. Wir sollten mit den wichtigsten Werken beginnen.

Nachdem man in Bezug auf eigene Werte und die eigene Gedankenwelt festen Fuß gefasst hat, mag man auch bedenkenlos andere Werke lesen können. Ansonsten könnte es einem angesichts der Vielzahl an Ansichten und Trends schwindelig werden und man könnte seinen klaren Blick verlieren.

Lesekampagnen

Je sachkundiger und kultivierter wir sind, umso besser wird es uns gelingen, unsere Identität in Bezug auf religiöse Werte oder unser wirtschaftliches und kulturelles Leben zu bewahren und in allen Bereichen ein spirituelles Denkmal zu errichten. Bediuzzaman sagt an einer Stelle: „Alle Dinge sind in Bezug auf ihre Washeit bzw. Beschaffenheit und ihr Entwicklungspotenzial von Wissen abhängig“ (23. Söz, 1. Mebhas, 4. Nokta). Er sagt auch, dass die Menschheit sich in der Endzeit an die Wissenschaft, insbesondere an die Naturwissenschaft, klammern und all ihre Kraft von dort beziehen würde (20. Söz, 2. Makam). Daher ist es an der Zeit, eine wirklich ernsthafte Leseoffensive zu starten, um nicht abgehängt zu werden.

Nicht nur jemand, der studiert, sollte lesen. Nein, jeder sollte es sich angewöhnen, niveauvolle Bücher zu lesen. Wir müssen zuerst jene Bücher lesen, die für uns so lebenswichtig sind wie Luft, Wasser oder Nahrung. Wir müssen zum Beispiel lernen, unsere Gebete richtig zu verrichten und unsere Religion richtig zu leben. Darüber hinaus sollten wir uns bei Fragen zu Ethik oder richtigem Verhalten gut auskennen, unser Wissen über den Koran erweitern und die erhellenden Aussagen unseres Propheten (Friede sei mit ihm) kennen. Wir müssen mit unserer Religion so weit vertraut sein, dass wir prüfen können, ob das, was wir tun, den Grundlagen der Religion entspricht.

Wenn die Vorreiter der Verkündung und der Rechtleitung, die Wahrheiten, an die sie glauben, richtig vermitteln und ihren Gesprächspartnern ihre Weltanschauungen und Lebensphilosophien überzeugend erklären wollen, müssen sie wirklich etwas von den Werten verstehen, an die sie glauben. Sie sollten sowohl über ausreichende Kenntnisse ihrer Religion verfügen als auch die Welt gut kennen, in der sie leben. Sie sollten wissen, wie sie sich in ihrer Zeit entsprechend Rückenwind verschaffen als auch auf aktuelle Bedürfnisse eingehen können. Und das geht nur mit einer ernsthaften Lesekampagne. Alles beginnt in kleinem Kreis, ist wie ein winziger Punkt im Zentrum, weitet sich aber dann nach außen hin gewaltig aus. Man beginnt mit fünfzig Leuten, und nach einer Weile werden tausend daraus.

Wenn wir aber nicht lesen, werden es unsere Kinder sehr wahrscheinlich auch nicht tun. Wenn die Eltern keine Bücher lesen, muss schon ein Wunder geschehen, damit die Kinder lesen. Wenn wir ein Buch nehmen und anfangen zu lesen, werden sie es uns gleichtun. Einstellungen und Verhaltensweisen von Eltern spiegeln sich wie ein genetischer Code oft in ihren Kindern wider. Leider legen Eltern heutzutage nicht viel Wert auf das Lesen. Diese Lücke muss unbedingt geschlossen werden, dieser Mangel muss behoben und kompensiert werden.

Nicht nur in der Familie, wir sollten allen Menschen nahelegen, Bücher zu lesen und sie dazu bringen, sie zu lieben. Wir sollten besonders darauf achten, dass Werke gelesen werden, bei denen es um unsere Gedankenwelt geht und die mit unserer Seele und unseren spirituellen Wurzeln zusammenhängen. Das ist der wichtigste Weg, um Entfremdung und Identitätsverlust zu verhindern.

Herausforderungen der digitalen Welt

Die digitale Welt hat sich erfolgreich als Alternative zum Bücherlesen etabliert und es überflüssig werden lassen. Als Gesellschaft müssen wir darüber nachdenken, wie wir diese Krise überwinden und die Menschen dazu bringen, wieder zu lesen, zu denken und zu diskutieren. Obwohl man dank Computern, Smartphones und dem Internet leichter auf Informationen zugreifen kann als je zuvor, ist es schwieriger geworden, diese Informationen auch im Gedächtnis zu behalten. Informationen gehen so schnell wie sie kommen. Daher ist man mit dem Lesen eines Buches immer im Vorteil.

Um das Gelesene besser zu verstehen und zu verdauen, ist es unabdingbar, wichtige Stellen zu markieren, sich bei Bedarf Notizen zu machen – auch zu Gedanken, denen man nicht zustimmt. Der Zweck des Lesens besteht schließlich darin, zu verstehen und seinen Sinn zu bereichern. Und dazu muss man sich etwas anstrengen.

Ich möchte hier noch eines in Erinnerung rufen: Dank Kommunikationsmitteln wie Internet und Fernsehen sehen und lernen wir heute viel. Aber nach einer Weile wird man, ohne es zu merken, süchtig danach. Man taucht in die Unterhaltung ein, verliert sich im Zeitgeschehen und verlässt die reale Welt. Wir müssen sehr vorsichtig sein, was unseren Medienkonsum betrifft. Wir sollten uns Grenzen setzen und persönlicher und sozialer Degeneration vorbeugen. Digitale Medien sind sehr anfällig für Missbrauch, was die Wunden und Zerstörungen, die sie in jungen Köpfen, in Familien und in der Gesellschaft hinterlassen haben, deutlich zeigen.

Dies zu verhindern ist nicht nur Aufgabe des Staates. Jede Familie sollte ihren Beitrag dazu leisten. Man könnte bei der Nutzung von Fernsehen und Internet vorsichtiger und umsichtiger sein. Man sollte ein Auge darauf haben, wo die Kinder im Internet surfen, welche Seiten sie besuchen, und ihre Internetnutzung zeitlich begrenzen.

Lesen in Gemeinschaft

Eine wichtige Möglichkeit, mehr aus dem Lesen von Büchern herauszuholen, besteht darin, sie miteinander zu besprechen. Nehmen wir an, wir möchten etwas über das Thema Auferstehung lesen. Dann könnten wir mit anderen zusammen entsprechende Passagen aus den Werken von Bediuzzaman, Fahruddin er-Razi, Imam Ghazali und Avicenna besprechen und uns dem Thema aus mehreren Perspektiven nähern. Wenn wir beispielsweise die Traktate Ene (das Ich) und (Das Teilchen) Zerre lesen, können wir sie mit dem Buch Rumûz-ı bi-Hôdî von Muhammad Iqbal vergleichen, in dem er die Geheimnisse des Selbst erklärt. Dank vergleichender Lektüre kann man sowohl die Überlegenheit mancher Gedanken erkennen als auch tiefer in die Thematik einsteigen.

Unser Prophet (Friede sei mit ihm) sagt im Zusammenhang mit dem Thema gemeinschaftlicher Unterredung in einem Hadith, dass Engel Studenten umgeben und sich auf ihnen niederlassen. Im Arabischen bedeutet „Unterredung“ (mudhakere), dass mehrere Personen ein Thema im Detail gemeinsam erörtern. Unterredung ist nicht die übliche Lektüre eines Buches, und es bedeutet auch nicht, dass eine Person liest und die andere ein Nickerchen machen. Es bezeichnet vielmehr das Brainstorming von Menschen, die ihre Köpfe zusammenstecken und darlegen, was sie verstehen – die Manifestation von Wahrheitsstrahlen, die dem Widerstreit der Ideen entspringt.

Wenn jedoch solche Unterredungen immer nach dem gleichen Schema ablaufen, würde das mit der Zeit nur langweilen und zu Unzufriedenheit führen. Die Teilnehmer könnten nicht mehr so viel Nutzen aus den Besprechungen ziehen, aus diesem Trog wohlschmeckenden Wassers. Wichtig ist, dass alle davon profitieren und Freude daran haben, Neues und Originelles zu lernen und das Lesen zu etwas hoch Angesehenem zu machen. Deshalb sollte man häufig mit dem Format des Unterrichts spielen und neue Methoden entwickeln.

Menschen mit herausragenden Fähigkeiten heranbilden

Leider haben wir das, was der ehrwürdige Pir einmal zu seinen Schülern sagte, falsch verstanden: „Die Risale-i Nur reichen euch.“ Er sagte dies – zu einer Zeit, in der Religion und Religiosität zerstört sowie religiöse Gefühle und Gedanken in die Zange genommen und über Bord geworfen wurden –, um die Aufmerksamkeit auf die Grundprinzipien der Religion und das damals dringendste Thema zu lenken. Wir haben diese Aussage jedoch zu kategorisch ausgelegt und den Religionswissenschaften nicht die erforderliche Bedeutung beigemessen. Aber so wie jemand nicht nur die Risale-i Nur liest, sondern auch Medizin, Chemie, Physik, Biologie, Anthropologie, Soziologie oder Geologie studiert und niemand etwas dagegen einzuwenden hat, so sollte auch ein Theologe die Grundlagenwerke der Islamwissenschaften, die ein eigenständiges Themenfeld bilden, lesen und Expertise auf diesem Gebiet erwerben.

Tatsächlich sollte ein Theologe neben dem Studium der Wissenschaften, die mit seinem Fachgebiet verbunden sind, auch Einblick in Fragen der positiven Wissenschaften nehmen und zumindest über ein Basiswissen auf diesen Gebieten verfügen. Er sollte, wenn er sich mit einem Chemiker oder Physiker zusammensetzt, in der Lage sein, mit ihnen ohne Schwierigkeiten über eines ihrer Themen zu sprechen. Denn man kann den Islam nicht von den positiven Wissenschaften trennen. Und man kann nicht mit Menschen über die eigenen Anliegen sprechen, wenn man nicht auch Kenntnisse auf deren Wissensgebieten besitzt. Ethisch-normative Anweisungen Gottes entspringen Seinem Attribut des Sprechens, während die kosmogonischen, schöpfungsbezogenen Anweisungen Gottes dem Attribut der Allmacht Gottes entspringen. Die ethisch-normativen Anweisungen erklären die kosmogonischen Anweisungen. Beide Aspekte sind so miteinander verflochten, dass man sie nicht richtig verstehen kann, wenn man einen vom anderen isoliert. Wer sich auf die Religionswissenschaften spezialisiert hat, sollte daher auch einschlägige Kenntnisse über die positiven Wissenschaften haben, und wer sich auf positive Wissenschaften spezialisiert hat, sollte ebenso viel oder sogar noch mehr über die Religion wissen.

Wenn religionswissenschaftlich gebildete Menschen die Probleme, die uns unsere Zeit beschert hat, nicht vernünftig lösen, wird dies nicht nur als persönliche Schwäche und Niederlage ausgelegt. Viel schlimmer: Eine solche Niederlage wird dem Islam zugeschrieben. Von Imam Ghazālī bis Fahruddin er-Rāzī, von Izz Ibn Abdisselām bis Ibn Hadjar al-Askalānī, von Bediuzzaman über Said Ramazan al-Būti bis Tantawī Djewherī – die Interpretationen und Ideen dieser Gelehrten haben dazu beigetragen, den Islam richtig zu verstehen. In den äußerst wertvollen Werken, die sie verfassten, räumten sie Zweifel am Islam aus und lieferten zufriedenstellende Lösungen für die Probleme, die die Menschen beschäftigten.

Wenn wir wollen, dass der Islam auch in der heutigen Welt richtig verstanden und gelebt wird, brauchen wir mindestens so viel Wissen wie sie und sollten gut ausgerüstet sein. Um das zu erreichen, sollten wir im Rahmen des heutigen Bildungssystems Personen ausbilden, die sich sowohl in den deskriptiven als auch in den normativen Wissenschaften qualifizieren, und die dafür notwendigen Rahmenbedingungen bereiten. Wenn wir Menschen, die gewissermaßen tot sind, zum Leben erwecken wollen, indem wir die uns von Gott dem Allmächtigen eingeräumten Möglichkeiten gut nutzen, sollten wir uns bewusst machen, dass wir dazu gut ausgebildete Menschen brauchen. Um dieses Ziel zu erreichen, sollten wir jede Gelegenheit nutzen und unserer Stellung gerecht werden. 

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