Haqq, Haqiqa und das, was dahinter liegt

Von M. Fethullah Gülen

Wörtlich übersetzt bedeutet Haqq (Wahrheit) Wahres, fest Verankertes, Konstantes. In unserem Kontext zeigt der Begriff an, dass eine Äußerung, eine Handlung oder eine Überzeugung völlig mit dem wesensgemäß Wahren, Realen und Wahrhaftigen übereinstimmt.

Das Gegenteil davon ist Baṭil (Falschheit). Darüber hinaus bedeutet Haqq auch: das, was man in dem Moment, wo man etwas sieht oder hört, wahrnimmt. Wenn der Begriff ohne bestimmten Bezug verwendet wird, wie zum Beispiel in dem Vers „Und sie werden erfahren, dass Gott die offensichtliche, klare Wahrheit ist (Al-Haqq al-Mubin – der Klare, die Höchste Wahrheit und der Ewig Beständige)“ (24:25), ist damit Gott selbst gemeint. 

Wenn erhabene Gottesfreunde von der (Höchsten) Wahrheit oder dem Wahren zu sprechen pflegten, so war stets von Gott die Rede. Haqiqa ist aus derselben Wortwurzel abgeleitet wie Haqq. Es bedeutet: Essenz; ursprüngliche oder exakte Form von etwas; Wahrhaftiges und Reales, nicht Figuratives. In der Terminologie der Sufis bezeichnet der Begriff eine der vier Stufen oder Phasen der spirituellen Vervollkommnungsreise. Diese besteht aus der Normenlehre (Scheri‘at) (dem Weg Gottes oder dem System der Gebote Gottes), der Tariqa (dem spirituellen Pfad oder dem Orden, der einem spirituellen Weg folgt), der Haqiqa (der Essenz, dem Wahrhaftigen) und der Ma’rifa (der Gotteserkenntnis).

Die Normenlehre umfasst sämtliche religiöse Prinzipien, die jeder kennt oder kennen und praktizieren muss.

Unter Tariqa versteht man den Weg des Erfahrens der spirituellen Tiefen der Scharia durch bestimmte besondere Methoden. Unter Haqiqa versteht man die Entdeckung und die Bezeugung von bestimmten Geheimnissen von Gottes Namen und verborgenen Aspekten Seiner Ruhmreichen Attributen durch bestimmte Bemühungen und Praktiken.

Ma’rifa (Gotteserkenntnis) schließlich lässt sich definieren als die Fähigkeit, das Geschenk, den Proviant in Empfang zu nehmen und mit ihm umzugehen, der bzw. den uns jenseits unseres Verstandesvermögens gegeben wird, wenn wir Wissen um bestimmte erhabene, tiefgründige Wahrheiten im Hinblick auf die Potenziale der Essenz Gottes und Geheimnisse des Gottseins suchen, gewahren und erlangen.

Einem anderen Ansatz zufolge ist Ma’rifa ein spezielles Geschenk für das oberflächliche Wissen von und den oberflächlichen Glauben an Gott, während Tariqa den Weg oder die Methode bezeichnet, diese Erkenntnis und diesen Horizont zu erreichen, und Normenlehre (Scheri‘at) und Haqiqa wiederum bilden ein Ziel, das es zu erreichen gilt.

Zwar besteht das einzige Ziel des Dieners im Grunde genommen darin, Gottes Wohlwollen und Sein Wohlgefallen zu finden. Doch der Weg zu diesem Ziel führt über die Normenlehre und Haqiqa, die zwei tiefe Dimensionen einer einzigen Wahrheit bilden.

Scharia bedeutet, den Prinzipien der Gottesdienerschaft treu zu bleiben und ein Leben gemäß den Geboten Gottes zu führen. Haqiqa heißt Zufriedenheit mit allem, was die erziehende Herrschaft (Rabbheit) Gottes ausführt, und meint das unablässige Erfahren des Prinzips: „Wir sind zufrieden mit dem erziehenden Herrn als unserem Gott, dem Islam als unserer Religion und Muhammed (Friede und Segen sei auf Ihn) als unserem Gesandten.“

Wenn dem Praktizieren der Normenlehre oder dem System, das sie hervorbringt, der Bezug zum Horizont von Haqiqa fehlt, so ist es ebenso wenig von Nutzen wie eine Haqiqa, die nicht auf dem Fundament der Normenlehre basiert oder in ihr verwurzelt ist. Aus einer anderen Perspektive betrachtet, meint Scharia die Gesamtheit der Verantwortungen, die Gott Seinen Dienern angeboten hat, und Haqiqa das Erkennen und Herauslesen der verborgenen Weisheiten des Gottseins aus diesen Verantwortungen.

Wie Ebû Ali d-Daqqaq1 schreibt, markiert der Satz „Dir allein dienen wir“ (1:5) die Grenzen der Scharia und der Satz „Dich allein bitten wir um Hilfe“ (1:5) den Horizont von Haqiqa.

Oder, kurz und prägnant:

Normenlehre und Haqiqa sind ineinander verwoben.

Tariqa ist der Pfad, der zu diesem Horizont führt,

Ma’rifa der Proviant der Gläubigen auf dem Pfad.

Alles weitere hängt von Treue, reiner Absicht und Strebsamkeit ab.

Livai

Ein weiterer Ansatz besagt, dass unter dem Begriff Normenlehre ein vollkommener Glaube und rechtschaffene Wohltaten zu verstehen sind. Haqiqa wiederum umfasst demnach Gottes Schutz dieser Helden des Glaubens und der Aktion. Zudem besteht sie aus den ganzheitlichen Zuwendungen mit einem universellen Bewusstsein der Gunst Gottes seitens der Diener.

Wenn wir erwarten, dass uns Gottes Beistand und Hilfe zuteilwerden, ohne dass wir glauben und rechtschaffene Werke tun, dann ist das eine Illusion. Ohne das Vertrauen auf seine Zuwendung ist es unfassbar schwierig, die schwierigen Verantwortungen der Normenlehre zu schultern.

Manche haben diese Realität auf den Punkt gebracht, indem sie sagten: „Die Normenlehre ohne Haqiqa zu verankern, ist extrem schwierig; ohne Normenlehre zur Haqiqa zu gelangen, jedoch unmöglich.“

Zu den weiter gefassten Definitionen gehört die, dass unter der Normenlehre die Erfüllung aller individuellen, familiären und gesellschaftlichen Verantwortungen mit einer reinen Absicht zu verstehen ist und unter Haqiqa, dass man so handelt, als würde man Gott permanent sehen, oder in dem Bewusstsein, ständig von Gott gesehen zu werden. Denn Er ist der Eine, der alles erschafft und jedem Seiner Geschöpfe einen Existenzrang schenkt, der Eine, der Rechtleitung und Fehlleitung erschafft und die Autorität besitzt, rechtzuleiten und fehlzuleiten, wen Er will.

Er erhöht und beehrt, wen Er will, und Er erniedrigt und demütigt, wen Er will; Er lässt erfolgreich sein, wen Er will, und verlieren, wen Er will; Er gibt Macht, wem Er will, und Er nimmt sie, wem Er will. Er ist es, der vorherbestimmt und Gutes und Schlechtes, Glauben und Unglauben, Nutzen und Schaden, Erfolg und Verlust zumisst. Auf Ihn bezieht sich die Aussage: Was Er will, dass es geschieht, geschieht, und was Er nicht will, dass es geschieht, geschieht nicht.2

Und noch eine Definition: Die Normenlehre umfasst die Grundprinzipien und Verantwortungen, die uns von den erhabenen Propheten übermittelt und gelehrt werden, damit wir sie befolgen, während der Begriff Haqiqa den Gunstbeweis der Entdeckung und Entschleierung dieser Lehren und Pflichten in Herz und Geist oder durch Beobachtung und spirituelles Genießen bezeichnet.

Dieser Sichtweise entsprechend haben manche tiefgründige Wahrheitsforscher die gottesdienerschaftlichen Aspekte der Normenlehre als Befolgen der Gebote und Verbote betrachtet, und die Geschenke der Gewissheit, der Bezeugung, des Genusses und der Entschleierung von tiefgründigen Wahrheiten, die diesen Geboten und Verboten zugrunde liegen, als die Dimension der Haqiqa.

Der Plural von Haqiqa lautet Haqa’iq (Wahrheiten). Man unterscheidet vier Grade dieser Wahrheiten.

Die Wahrheiten ersten Grades:

Sie betreffen die Essenz des Erhabenen Einen. Der Reisende, der die Wahrheiten der Essenz Gottes aussucht, sollte in seinen Gedanken, Worten und Werken stets den Richtlinien und Kriterien des Inhabers der reinen Lehre (des Propheten) treu bleiben.

Er sollte von persönlichen Auslegungen und Interpretationen absehen, selbst wenn er um die höchsten Gipfel der Gotteserkenntnis und des spirituellen Erfahrens kreist.

Die Wahrheiten des zweiten Grades:

Sie beziehen sich auf Gottes Ruhmreiche Attribute. Der Reisende, der diesem Horizont entgegenstrebt, sollte die Grenzen der Gotteserkenntnis achten, die ihm von Seinen Schönen Namen vorgegeben werden, und den von Seinen erhabenen Attributen vorgegebenen Rahmen nicht verlassen. Was die Kenntnis von Dingen betrifft, die jenseits dieser Grenzen liegen, so sollte er sie Seiner besonderen Aufmerksamkeit und Gunst anheimstellen, ohne dabei irgendwelche persönlichen Erwartungen zu hegen.

Die Wahrheiten des dritten Grades:

Diese sind mit den Handlungen Gottes verknüpft. Wer nach diesen Wahrheiten forscht, sollte alles, was in dieser Sphäre der Möglichkeiten, in der Gottes Attribute und Namen sich selbst manifestieren und operieren, existiert und geschieht, auf Gott den Allmächtigen zurückführen. Weiterhin sollte er sich üben im Nachsinnen über die äußeren und inneren Welten, und er sollte sich kontinuierlich Tag für Tag darum bemühen, den Dingen und Geschehnissen auf den Grund zu gehen.

Die Wahrheiten des vierten Grades:

Sie sind den Wirkungen oder Ergebnissen der Handlungen Gottes zuzurechnen. Die Sphäre dieser Wahrheiten ist die Sphäre, in der alle Qualitäten und Quantitäten manifestiert werden, in der sich Substanzen und Körper bilden und wieder auflösen, in der sich alle Handlungen von Zusammenfügung, Trennung, Formung, Umformung, Auflösung und Verschwinden vollziehen. Wird eine spirituelle Vervollkommnungsreise in dieser Sphäre von aufrichtiger Beobachtung, Einsicht und Urteilsvermögen gelenkt und geleitet, so kann sie Wissen und Gotteserkenntnis hervorbringen. Doch wenn es denjenigen, die auf der Suche nach den betreffenden Wahrheiten in dieser Sphäre reisen, bei der Betrachtung der Handlungen, Geschehnisse und Begebenheiten an Einsicht und Urteilsvermögen mangelt und wenn es ihnen nicht gelingt, die Sphäre der sichtbaren Kausalitäten hinter sich zu lassen, so verfallen sie unweigerlich dem Naturalismus.

Diese vierte Sphäre wird von Hodscha Tahsin folgendermaßen beschrieben:

Die Seiten des Buches des Universums sind unendlich vielgestaltig, und ohne Zahl sind ihre Buchstaben und Worte.

Niedergeschrieben in der Druckerei der Bewahrten Tafel der Wahrheit, ist jedes Geschöpf im Universum ein bedeutungsvoll verkörpertes Wort.

Wer dies aber nicht verstanden hat, wird das Buch des Universums wohl kaum je richtig erkennen, lesen oder interpretieren können. 

Anmerkungen

Abu Ali d-Daqqaq (gest. 405AH/1014 n.Chr.) war einer der führenden Sufimeister in der Geschichte des Islams. Sein Lehrer war Abu Abdurrahman as-Sulami.

Abu Dawud, Sunna, 6; Bayhaqi, I‘tiqad, 1:161

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