ASCHQ
Leidenschaftliche, ekstatische Liebe
Von M. Fethullah Gülen
Aschq steht für leidenschaftliche Liebe und Zuneigung, die der Mensch gegenüber Vollkommenheit, Schönheit und physischen Reizen empfindet. Diese Art von Liebe wird von den Sufis normalerweise gegenständliche oder metaphorische Liebe oder Liebe zum anderen Geschlecht genannt. Die wahre leidenschaftliche Liebe aber ist die Liebe zum König der Ewigkeit und Unendlichkeit, Dessen Schönheit sich in Seiner Vollkommenheit und Dessen Vollkommenheit sich in Seiner Schönheit manifestiert.
Die wahre leidenschaftliche Liebe zu Gott ähnelt Flügeln aus Licht, die Er uns geschenkt hat, damit wir zu Ihm gelangen können. Diese Liebe kann auch als vorübergehende „Nachtfalterung des Geistes“ bezeichnet werden, um zu dem Licht zu gelangen, das die Essenz des Seins ausmacht. Die leidenschaftliche Liebe ist der geheimnisvolle und zugleich entscheidende Grund für die Schöpfung des Daseins. Gott erschuf das Dasein, weil Er erkannt und geliebt zu werden wünschte und weil die zur Wahrheit gewandten Menschen ein tiefes Interesse an Seiner Essenz, Seinen Eigenschaften und Namen verspüren würden. Die leidenschaftliche Liebe, die der Geist des Menschen ohne sein Dazutun fühlt, entzieht sich der Kontrolle des Menschen. Ihre eigentliche Quelle ist Gott selbst, der Sich in einer Weise liebt, die Seiner Heiligen Essenz eigen ist und der grundlegenden Unabhängigkeit von allem Erschaffenen entspricht. Das Dasein entsprang von dieser transzendentalen Liebe, damit kam die Menschheit ins Tageslicht, die Herzen wurden mit damit ausgerüstet, sodass sie mit der Wahrheit in Verbindung bleiben können.
Die wahre leidenschaftliche Liebe ist der letzte Schritt, um zu Gott zu gelangen. Einem Liebenden, der diesen Punkt erreicht hat, blieb entweder nur noch ein Schritt oder gar keinen Schritt übrig. Die erste Widerspiegelung Gottes geschah eben in dieser transzendentalen Liebe zu Sich selbst, die Sein ‚Gottsein‘ erfordert. (Diese heilige Liebe darf allerdings keinesfalls mit der Liebe verwechselt werden, die der Mensch gegenüber dem Erschaffenen oder dem Schöpfer Selbst empfindet.) Ich benutze den Begriff der transzendentalen Liebe deswegen, weil ich es vermeide, Ihm, dem Erhabenen, leidenschaftliche Liebe zuzuschreiben. Manche Menschen tendieren dazu, diese göttliche Liebe, als Wissen zu bezeichnen. Denn diese Selbstliebe gilt als die erste Manifestation, erstes Herabsteigen aus der Welt der Essenz Gottes, die durch Erhabenheit und Absolutheit gekennzeichnet ist. Dieser Abstieg wird Wissen (ilm) genannt, weil diese Manifestation aus Wissen besteht. Aus der Perspektive der Liebe, zu sehen und gesehen zu werden, wird sie Erhabene Liebe (aschq munezzeh) genannt. Da diese Manifestation das ganze Sein umfasst, wird sie auch als Tafel (lawh) bezeichnet, weil sie die ganze Existenz umfasst und beinhaltet, und den Namen Stift (qalem) trägt sie, weil sie alles, was in der Schöpfung existiert, in allen Details behandelt.
Diese Manifestation wird zugleich als Dschabarut (höchste immaterielle Macht) und die Wahrheit Ahmeds bezeichnet. Die Erhabene Liebe ist ein Mysterium, das sich auf das Wesen Gottes bezieht. Andere Eigenschaften Gottes hängen dieser Liebe an oder sind von ihr abhängig. Daher gelangen diejenigen, die mit den Flügeln der leidenschaftlichen Liebe fliegen, direkt zum Wesen Gottes und erreichen damit die Stufe des Staunens. Andere müssen zunächst die Zwischenwelt der Schöpfung und Namen Gottes durchqueren.
Unzählige Wege führen zu Gott. Der Tasawwuf und die Wissenschaften der Wahrheit sind der Proviant, den der Reisende unterwegs braucht. Sie zeigen ihm, welche Richtung er einschlagen soll. Die spirituellen Orden (Tariqat, sing.: Tariqa) sind die Häfen, von denen er aufbricht, und die Schulen, an denen die Grundlagen des Reisens vermittelt werden. Alle Wege zur Wahrheit lassen sich grob in zwei Wegen zusammenfassen:
Da ist zum Einen der Weg, auf dem dem Reisenden Prinzipien wie weniger zu essen, zu trinken und zu schlafen oder eine verstärkte innere Einkehr und ein Verzicht auf unnötige gesellschaftliche Aktivitäten angetragen und gelehrt werden. Auf diesem Weg gründen fast alle Sufiorden. Die Anhänger dieser Orden rufen Gott am häufigsten mit der Rezitation Seiner sieben Namen an, die lauten: Es gibt keine Gottheit außer Gott, Allah (Gott), Huwa (Er), Haqq (die Wahrheit), Hayy (der Lebende), Qayyum (der aus Sich selbst heraus Existierende) und Qahhar (der alles Überwältigende). Diese Art von Rezitation zielt darauf ab, folgende sieben Stufen des fleischlichen Nefs zu durchwandern: das diktierende Nefs, das selbstkritische Nefs, das inspirierte Nefs, das zufriedene Nefs, das zufriedenstellende Nefs, das erfüllte Nefs, das reine Nefs. Manche fügen den oben erwähnten sieben Namen noch weitere Namen der Hoheit Gottes hinzu, z. B. Qadir (der Mächtige), Qawiy (der Starke), Dschabbar (der Bezwinger), Malik (der Meister) und Wedud (der Liebende) oder Namen der Schönheit Gottes wie Ferd (der Einzigartige), Wahid (der Eine), Ehad (der Unvergleichliche Einzige) und Samed (der Ewige, von allen Angeflehte).
Der zweite Weg stützt sich auf die strikte Befolgung des Korans und der Vorgehensweise des Propheten. Auf diesem Weg werden noch bestimmte andere freiwillige und regelmäßige Rezitationen und Gottesgedenken gefördert. Wer diesen Weg einschlägt, versucht, sich bei allem, was er tut, so gut wie möglich an die Sunna zu halten. Statt bestimmte Namen Gottes zu rezitieren, eifert er eher dem Propheten in seiner Verehrung, seinem Bittgebet und seinem Hauptgebet zu Gott nach. Er forscht über die Methoden der tiefen Kontemplation des Propheten über die Schöpfung, seines Gottesdienstes, seiner Bittgebete, seines Gottesgedenkens. Er befolgt die Gebote des Weges Muhammeds mit akribischer Genauigkeit. Er ist seinen Lehrmeistern bzw. Lehrern eng verbunden und überlässt sich den Strömungen des Aschq und der (spirituellen) Anziehungskraft Gottes. Hat er Aschq und Anziehungskraft erst einmal erlangt, beginnt die äußere Dimension des Seins aus seinem Blickfeld zu verschwinden. Sein Ich löst sich auf, und er beginnt, die absolute Einheit Gottes zu fühlen und zu schauen. An diesem Punkt gelangt er direkt zu seinen Sinnen, ohne dabei in Verwirrung zu geraten, und schließlich zu den Extremen in der Beziehung zwischen Schöpfer und Erschaffenem. So vollendet er seine Reise. Die Hauptprinzipien dieses zweiten Weges sind Gottesdienst, Liebe, spirituelle Neigung zu Gott, Gottesgedenken und Gesprächsrunde (suhbe). Unter dem Begriff Gottesgedenken ist hier neben dem Gedenken Gottes samt all Seiner Namen auch das Studium und die Erforschung von allem, was auf dem Weg zu Gott behilflich ist, zu verstehen. Dies meinte der Prophet, als er die Gruppe derer beschrieb, an denen Gott Gefallen findet: Sie studieren gemeinsam.1 Gelegentlich findet sich der Liebende auch im Strom von freudiger Begeisterung und Sehnsucht wieder, die als eine andere Dimension der leidenschaftlichen Liebe bezeichnet werden können.
Anmerkungen
271 Muslim, Dhikr, 11