Haqiqa

Von M. Fethullah Gülen

Der Begriff Haqiqat al-Haqa’iq (Wahrheit der Wahrheiten) wird verwendet, um den Rang der absoluten Einzigkeit Gottes (manchen zufolge auch den Rang der absoluten Einheit Gottes) zu beschreiben, der auch dem Rang von Gottes erster Manifestation Seiner Essenz entspricht.

Manche sprechen in diesem Zusammenhang von dem Höchst erhabenen Aufgehen oder von der Höchst erhabenen Existenz oder von dem Allerverborgensten. Es verbietet sich aber, davon auszugehen, dass sich diese ehrwürdige Wahrheit selbst identifiziert hat oder dass sie die reine Essenz ist oder dass sie als reine Essenz eine Existenz erhält.

Ebenso wenig darf man sie sich als eine relative Wahrheit vorstellen. Die Essenz Gottes manifestiert sich grundsätzlich nicht ohne einen Schleier, und die Wahrheit der Wahrheiten wäre nicht mit Seinem Wesen gleichzusetzen, wenn man dabei Seine Attribute oder Namen als Schleier außer Acht ließe. Gotteserkenntnis können wir nur über Seine Attribute und Namen erlangen.

Der Ehrwürdige Wahre lässt sich nicht in Worte fassen; denn jede Beschreibung Gottes würde Ihm Grenzen stecken, wo doch uns selbst Grenzen gesteckt sind, aber nicht Ihm. Insofern ist es ein religiöses Grundprinzip, der Höchsten Wahrheit einen eigenen Rang zuzumessen, der sich vom Rang des Erschaffenen fundamental unterscheidet. Jede andere Sichtweise ist eindeutig als Fehlleitung einzustufen und stiftet nur Verwirrung. Die Pflicht der Diener besteht darin, sich in tiefster Hingabe zu Gott hinzuwenden und zu versuchen, ihre Distanz zu Ihm zu überbrücken und mit Hilfe der Rechtleitung des gesegneten, edlen Weges und mit dem Proviant der Gotteserkenntnis zu dem Unbegreiflichen Einen voranzuschreiten. Ein Gottesfreund merkte dazu an:

Fliehe, o Reisender, aus der Sphäre der Vielgestaltigkeit. Schreite voran! Lass dich nieder am Hof des Unabhängigen, des Einmaligen Einen. Schreite voran!

Möchtest du in dieser Vielgestaltigkeit das Antlitz der Einzigkeit Gottes schauen,

so reinige und poliere den Spiegel deines Herzens. Schreite voran!

Manche umrunden unablässig die Kaaba, andere Gottes Thron. Du aber bevorzugst das gesegnete Heiligtum der Nähe Gottes. Schreite voran!

Wer aufbricht zu Ihm, dessen Reise kennt keinen Endpunkt. Wohin sie dich auch führt, geh weiter! Schreite voran!

Ibrahim Haqqi1

Tatsächlich endet die Reise zu dem Unbegrenzten Einen nie. Ihre Visionen und Erfahrungen nehmen ein ganzes Leben in Anspruch. Sie erstreckt sich über diese Welt hinaus auch in die kommende Welt, wo sie Tiefen anderer Art ausloten wird.

Reisende eilen von einer Vision oder Beobachtung zur anderen und nehmen aus mannigfaltigen Perspektiven wahr, auch nachdem sie mit der Begegnung mit Gott und Seiner Gesellschaft beehrt wurden. Es kommt vor, dass sie gleich mehrmals am Tag von der Verzückung des Schauens und Betrachtens ergriffen werden.

O Gott! Dich bitte ich um Ergebung nach jedem Unglück und nach jedem Deiner mich betreffenden Beschlüsse und Urteile, um die Kühle eines Lebens nach dem Tod, um den Genuss, Dein Antlitz zu schauen, und um das Bestreben, Dir zu begegnen, ohne dass mir durch etwas Verderbliches oder durch eine irreführende Arglist oder durch ein Unheil Schaden entstünde. Und Dein Segen und Frieden, o Herr, sei auf dem Begründer und Siegel der Prophetenschaft, auf seiner Familie und allen seinen Gefährten. 

Anmerkungen

Ismail Haqqi aus Bursa (1653 – 1725) war einer der bedeutendsten Sufimeister und -autoren. Er lebte lange Zeit in Bursa, Türkei. Berühmt ist sein Werk Ruh al-Bayan (ein vierbändiger Korankommentar). Sein letztes Buch trägt den Titel Kitab al-Natidscha. [Anm. des Übers.]

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