DER EHRWÜRDIGE SCHUʿAYB

Ein beispielhafter Lehrmeister

Von Hikmet Işık

Der ehrwürdige Schuʿayb sagte zu seinem Volk: „O mein Volk! Was meint ihr – wenn ich mich auf klare Beweise von meinem Herrn stützen kann und Er mich aus Seinen Gaben versorgt? Ich will nicht (in der Hoffnung auf weltlichen Gewinn oder gar um Unordnung anzurichten) euch zuwiderhandeln (indem ich selbst tue), was ich euch bitte zu unterlassen. Ich erstrebe doch nur, so gut ich kann, das Beste für euch. Mein Erfolg bei meiner Aufgabe hängt allein von Gott ab. In Ihn habe ich mein Vertrauen gesetzt, und Ihm wende ich mich stets von ganzem Herzen zu“ (Sure Hūd, 11:88). Welche Botschaften enthalten seine Worte für einen spirituellen Lehrmeister (Murschid)?

Zunächst sollte man Folgendes betonen: Um die an ihre Völker gerichteten Worte der Propheten und ihre Ratschläge zu verstehen, ist es notwendig, die Besonderheiten dieser Völker zu kennen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass ihre Aussagen und Ansprachen einen konjunkturellen Aspekt haben und sich nach den Anforderungen des gesellschaftlichen Umfelds richten. Wenn wir uns die Geschichten der Propheten ansehen, die im Koran erzählt werden, zeigt sich, dass jedes Volk einen anderen Charakter, eine andere Krankheit hatte.

Das trifft auch auf das Volk des ehrwürdigen Schuʿayb zu. Er wurde als Prophet zu den Bewohnern von Midian und El-Eyke gesandt. Nach vorherrschender Meinung der Kommentatoren stammte er wahrscheinlich aus Midian, wurde aber auch damit beauftragt, den Bewohnern von El-Eyke den wahren Weg zu weisen. Denn der Koran spricht immer, wenn er über die Entsendung des ehrwürdigen Schuʿayb als Prophet nach Midian spricht, von ihm als von „ihrem Bruder“ (El-Aʿrāf, 7:85; Hūd, 11:84; El-ʿAnkabūt, 29:36), wohingegen diese Bezeichnung in Verbindung mit El-Eyke nicht verwendet wird (Asch-Schuʿarāʾ, 26:177).

Der Koran deutet an, dass diese Orte zu jenem Zeitpunkt wichtige Handelszentren waren. Die Bewohner profitierten davon und erlangten beträchtlichen Reichtum, wurden daraufhin arrogant und ließen sich gehen. Sie spekulierten mit dem Geld anderer, veruntreuten deren Besitz, betrogen und täuschten die Menschen bei ihren Geschäften. Aus den Versen des Korans kann man ableiten, dass sie wahrscheinlich Ausschau nach Waren hielten, die sie den Erzeugern billig abkauften, um sie dann zu höheren Preisen weiter zu verkaufen. Sie erhoben Tribut auf Handelswaren und hohe Steuern. Deshalb riet der ehrwürdige Schuʿayb ihnen, in ihren Geschäften stets ehrlich und fair zu sein und die Menschen nicht auf illegale Weise um ihre Güter zu bringen.

Der gemeinsame Aufruf aller Propheten

Obwohl die Propheten entsprechend der Krankheiten und Probleme ihrer Völker unterschiedliche Themen hervorgehoben haben, gibt es sehr wichtige Wahrheiten, die alle Propheten übereinstimmend betonen. Die Aufrufe der Propheten an ihre Völker lassen erkennen, dass sie alle Menschen zur Anerkennung der Einheit Gottes (Tauhid) aufgerufen haben und dazu, Gott zu dienen und Ihn anzubeten. Alle Propheten versuchten, ihr Volk vor Unglauben, Polytheismus, Ketzerei und Korruption zu schützen. Der Hauptzweck ihrer Mission bestand darin, Menschen zur Anerkennung der Einheit Gottes und zur Gottesanbetung aufzurufen, wenngleich sie sich je nach den Bedürfnissen der Orte, an die sie entsandt worden waren, im Detail auch auf andere Themen konzentriert haben.

Ebenso betonten alle Propheten, dass sie für ihre prophetischen Aufgaben keine materielle oder spirituelle Gegenleistung von ihrem Volk erwarteten und dass ihr Lohn allein von Gott käme. Wenn wir uns zum Beispiel die Geschichten der Propheten in der Sure Asch-Schuʿarāʾ ansehen, bemerken wir, dass folgende Worte übereinstimmend aus dem Mund aller Propheten kamen: „Mein Lohn wird mir von niemand anderem als dem Herrn der Welten zuteil“ (Asch-Schuʿarāʾ, 26:109, 127, 145, 164, 180). Auch Habib-i Nedjjars Worte an jene, die die Propheten töten wollten, die zu ihnen gesandt worden waren, bestätigen diese Tatsache: „Folgt denen, die keinen Lohn (für ihre Dienste) verlangen und die selbst rechtgeleitet sind“ (Yā. Sīn, 36:21).

Eine der wichtigsten Voraussetzungen, um als Murschid erfolgreich zu sein, besteht also darin, keine finanziellen Erwartungen zu hegen. Menschen, die von niemandem etwas als Gegenleistung für ihre Dienste erwarten, bewahren ihre Aufrichtigkeit und wecken in den Menschen Vertrauen. Keiner, der auf Profit aus war, konnte je die Menschen hinter sich an die Ufer des Heils führen. Mit den Worten von Niyazi Mısrī: „Gebe nicht jedem Murschid die Hand, denn er führt dich eines steilen Weges. Der Weg eines vollkommenen Murschids ist ein leichter.“ Damit die Ergebnisse unseres Dienstes wie ein Schneeball, der ins Rollen gerät, immer größer werden, müssen sie mit Aufrichtigkeit gekrönt sein.

Zuverlässig sein

Wenden wir uns nun dem in der Frage erwähnten Vers noch etwas genauer zu. Der ehrwürdige Schuʿayb beginnt mit den Worten „O mein Volk!“. Bei dieser Anrede fällt auf, dass im Arabischen die Possivendung „ye“ („mein“) fehlt.1 Das könnte darauf hindeuten, wie eilig es der ehrwürdige Schuʿayb hatte, sein Volk zu führen, und wie aufgeregt er war. Im Koran stößt man von Zeit zu Zeit auf solche Aussparungen.

Weiter sagte er: „Was meint ihr – wenn ich mich auf klare Beweise von meinem Herrn stützen kann und Er mich aus Seinen Gaben versorgt?“ Mit diesen Worten erinnert der ehrwürdige Schuʿayb sein Volk an die Segnungen Gottes des Wahren und lädt sein Volk zum Nachdenken ein. Indem er erwähnt, dass die Güter und Segnungen, die er besitzt, ihm von Gott gewährte rechtmäßige (halāl) Gaben zum Lebensunterhalt sind, deutet er an, dass sein Volk seinen Lebensunterhalt nicht rechtmäßig erworben hat. In der Tat hat er ihnen, wie weitere Verse des Korans klar belegen, gezeigt, wie sie ihren Lebensunterhalt rechtmäßig verdienen können: „Gebt volles Maß (in all euren Handelsgeschäften), und gehört nicht zu denen, die (durch Betrug und indem sie weniger geben) den anderen Verlust verursachen. Und wiegt mit ehrlichen, genau eingestellten Waagen ab. Und tut den Menschen nicht Unrecht, indem ihr ihnen vorenthaltet, was ihnen rechtmäßig zusteht, und zieht nicht mehr Verderben bringend auf Erden umher, indem ihr Unordnung stiftet und Unheil anrichtet“ (Asch-Schuʿarāʾ, 26:181–183).

Wie wir bereits erwähnt haben, war das Volk des ehrwürdigen Schuʿayb auf grausame und ungerechte Weise zu Reichtum gelangt. Daher hätte es sein können, dass es den Propheten – Gott bewahre – so betrachteten wie sich selbst und ihm ebenfalls solches Verhalten unterstellten. Schließlich stammte der ehrwürdige Schuʿayb ja aus seinen Reihen. Um eine solche Unterstellung zu verhindern, erwähnte er, seinen Besitz auf rechtmäßige Weise erworben zu haben. Indem er erwähnte, dass ihm die Güter, die er besaß, von Gott gegeben wurden, sie also halāl, sauber und gut waren, räumte er alle möglichen Zweifel, die ihnen in den Sinn hätten kommen können, von vornherein aus. Man könnte sogar sagen, er hat in gewisser Weise seinem Volk Rechenschaft abgelegt.

Ja, jeder Murschid muss bereit sein, der Gesellschaft, in der er lebt, über sein Leben Rechenschaft abzulegen. Denn davon hängt es ab, ob er in den Augen der Gesellschaft als eine vertrauenswürdige und geachtete Person eingeschätzt wird. Wenn wir uns das Leben des ehrwürdigen Pir ansehen, bemerken wir, dass auch er über alles Rechenschaft abgelegt hat – von der Kleidung, die er trug, bis zum Essen, das er aß. Wir verlieren unsere Glaubwürdigkeit, wenn in den Köpfen der Menschen Zweifel darüber bestehen, ob wir Geld oder Besitz der Menschen veruntreut oder uns daran bereichert haben könnten.

Heute erleben wir Anführer, die gestern noch in Armenvierteln hausten, dann mit Themen wie „Heimat“ und „Nation“ auf sich aufmerksam machten und jetzt auf ihren Yachten und in ihren Villen leben, Teilhaber diverser Unternehmen sind und auch ihre Söhne, Töchter und Schwiegersöhne reich gemacht haben. Solche Menschen sind wenig überzeugend. Auch wenn sie ihr wahres Gesicht geschickt zu verbergen suchen und niemanden ihren wirklichen Reichtum spüren lassen, wird der Tag kommen, an dem alles deutlich zutage treten wird. Dann werden sie all ihre Würde verlieren; sie werden keinen wahren Wert mehr besitzen. Sie werden zu verfluchten Menschen, an die man sich nur unter Verwünschungen erinnert. Aus diesem Grund sollte ein wahrer Murschid sein ganzes Leben lang anständig und makellos bleiben, frei von Anschuldigungen aller Art, und diese Haltung auch anderen Menschen vermitteln.

Der ehrwürdige Schuʿayb sagte über seinen Herrn: „Er [hat] mich mit Seinen Gaben versorgt.“ Damit drückte er aus, dass er die materiellen Möglichkeiten, die er hatte, mit legitimen Mitteln erworben hatte, und zeigte an, dass er nicht wie sie war. Er spekulierte nicht, raubte nicht den Besitz des Volkes, machte keine Geschäfte mit Bestechung und betrog nicht. Alles, was er besaß, hatte er rechtmäßig erworben. Indem er auf all das hinwies, betonte der ehrwürdige Schuʿayb, dass er ein vertrauenswürdiger und zuverlässiger Mensch ist. Gleichzeitig bereitete er den Boden für die Ratschläge, die er seinem Volk geben würde.

Sagen, was man tut, und tun, was man sagt

Im Folgenden machte der ehrwürdige Schuʿayb auf einen weiteren wichtigen Grundsatz für spirituelle Wegweiser und Verkünder aufmerksam: „Ich will nicht euch zuwiderhandeln (indem ich selbst tue), was ich euch bitte zu unterlassen.“ In einem anderen Vers des Korans heißt es: „Wollt ihr den Menschen das Rechte gebieten, während ihr euch selbst vergesst, obwohl ihr doch das Buch vortragt (und darinnen die Gebote, Verbote, Ermahnungen und Warnungen seht)? Wollt ihr denn nicht begreifen und euch besinnen?“ (El-Baqara, 2:44). So wurden die Kinder Israels dafür kritisiert, dass sie selbst nicht taten, was sie andere lehrten.

Gott der Wahre sagt jedoch: „O ihr, die ihr glaubt! Warum sagt ihr, was ihr nicht tut (und auch nicht tun werdet)?“ (As-Saff, 61:2). Die Bedeutung dieses Verses ist nicht: „Wenn ihr es nicht tut, sagt es auch nicht.“ Im Gegenteil: „Da ihr es sagt, tut es auch.“ Das ist der Weg zum Erfolg. Davon hängt es ab, ob unser Gegenüber unsere Worte annimmt oder nicht.

Streben nach Verbesserung

Nachdem der ehrwürdige Schuʿayb sein Volk ermahnt hatte, nicht im Widerspruch zu ihren Worten zu handeln, drückte Schuʿayb seinen eigentlichen Wunsch wie folgt aus: „Ich erstrebe doch nur, so gut ich kann, das Beste für euch.“ In seinen Worten kann man die Vorsicht des Propheten erkennen. Er wollte, dass Gerechtigkeit, Frieden und Wohlergehen unter den Menschen herrschten. Aus diesem Grund versuchte er zuerst, ihr Herz, ihre Seele, ihre Gedanken und Emotionen zum Frieden hinzuführen. Denn Menschen, die ihre innere Welt nicht verbessern können, können auch unmöglich sozialen Frieden und soziale Ordnung herstellen. Aber genau das wollte er mit aller Kraft tun.

Der Gesandte Gottes (der Friede Gottes sei mit ihm) sagte in einem Hadith: „Der Islam begann befremdlich (bei den Bedürftigen und Außenseitern), und zu dem gleichen befremdlichen Zustand werd er zurükkehren. Frohe Kunde für die Fremdlinge, die Verbesserungen anstreben in einer Zeit, wo alle anderen mit Zerstörung und Korruption beschäftigt sind“ (Tirmidhi, Iman 13). Unser Herr überbrachte frohe Kunde von Menschen, die zu einer Zeit nach Verbesserung streben würden, in der die Märkte verkommen sein würden, die Häuser förmlich in Unwissenheit baden, die Schulen nicht das bieten, was von ihnen erwartet wird, die Begeisterung in der Moschee ausgelöscht und die Muslime ein sonderbares Leben führen würden. Trotz der Tatsache, dass einige Menschen die Gesellschaft korrumpieren, werden sie furchtlos nach Rechtschaffenheit streben.

Aus diesem Grund sollte die einzige Sorge des Murschids der Verbesserung gelten. Er sollte sich darum bemühen, sein Volk auf ein höheres Niveau zu heben, und nicht seine eigene Welt zu verbessern. Denn wenn jeder einzelne im Volk zu einem besseren Menschen wird, wird es keine Probleme mehr auf Erden geben. Erst mit den Menschen kamen die Probleme auf die Erde. Man kann die Probleme erst in dem Moment lösen, indem man das Problem im Menschen löst.

Der gesegnete Prophet, der sich seiner menschlichen Schwäche und Bedürftigkeit bewusst war, sagte: „Mein Erfolg bei meiner Aufgabe hängt allein von Gott ab. In Ihn habe ich mein Vertrauen gesetzt, und Ihm wende ich mich stets von ganzem Herzen zu.“ Er löste sich von seiner begrenzten Macht und nahm Zuflucht zu Gottes unbegrenzter Macht. Er wusste nur zu gut, dass hinter Erfolgen die Gnade Gottes steckt. Wenn man sich nicht auf Ihn verlässt und nicht Zuflucht bei Ihm sucht, kann man keine echten und dauerhaften Erfolge erzielen. Daher ist es unsere Aufgabe, bei allen Schritten, die wir unternehmen – und seien sie noch so unbedeutend –, völlig auf Ihn zu vertrauen, uns auf Ihn zu verlassen, uns an Ihn zu wenden und Zuflucht bei Ihm zu suchen. 

Anmerkungen

Es sollte yā qawmiy bzw. yā qawmī heißen, jedoch fehlt bei dieser Stelle das „y“ (Anm. d. Red.).

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