Der Mensch und die Wendeltreppe seiner Gedanken

Man kann die Wirkung von Gedanken, Absichten und tiefen Sehnsüchten sowie von Talenten – die wie Kerne im Innern des Menschen liegen, sich entwickeln und schließlich zum Vorschein kommen – mit der Wirkung von Erde, Luft, Regen und Sonne vergleichen. Sie sind auf der Kausalitätsebene für die Saat, die in der Erde liegt, das, was Gedanken und Absichten für die Entwicklung der menschlichen Moral und des Charakters sind.

So wie Gräser und Bäume aus Samen wachsen oder wie Vögel und andere Ovipare aus Eiern schlüpfen, entstehen ein erhabener Geist und ein makelloser Charakter aus guten Gedanken und reinen Absichten.

Der Gedanke ist ein Samenkorn, unsere Handlungen sind seine Knospen und unsere Freuden und Sorgen seine Früchte. „Wer Gutes denkt, sieht Gutes“, heißt es. Wer Gutes denkt, entwickelt die Saat des Guten in seiner Seele und lebt fortan im Paradies seines Herzens. Finstere Seelen hingegen, die sich über alles und jeden beschweren und aus den pechschwarzen Öffnungen der dunklen Welten, die sie in sich errichtet haben, düster dreinschauen, werden nie das Gute sehen, gute Gedanken haben und ihr Leben genießen können. Selbst im Paradies würden sie die Lieder der Hölle anstimmen, nach Trost bei den Dämonen suchen und im Weyl 1 ihrer Seelen leben, die das Licht nicht kennen.

Als Statthalter des Schöpfers wurde der Mensch jedoch in der Position erschaffen, über die gesamte Existenz zu herrschen, also Herr über alles zu sein. Der Mensch, der mit einer so erhabenen Aufgabe in die Welt gesandt wurde, brachte auch den Kern all der Qualitäten mit, die dieser hohe Rang erforderte. Eine zweite Existenz durch Erwerb eines erhabenen Charakters zu erlangen und dann (man selbst) zu bleiben, hängt ab von systematischem Denken, kontinuierlicher Arbeit und der stetigen Vertiefung des Herzenslebens und des spirituellen Lebens. Natürlich haben schlechte und hässliche Gedanken einen schlechten und hässlichen Charakter zur Folge.

Wenn der Mensch sich nicht die ersten Gaben, die ihm gegeben wurden – und mit deren Hilfe er Willensstärke, eine gute Moral und einen guten Charakter bilden kann –, zunutze macht, um sich im Einklang mit den Geboten des Schöpfers zu erneuern, wird es ihm nicht nur nicht gelingen, (er selbst) zu bleiben, sondern er wird unweigerlich zerstört werden. Entweder fertigt er auf der Werkbank seiner Gedanken und Absichten Frieden, Glück und alles das, was er für das Leben im Dies- und im Jenseits benötigt, oder er zerstört sich und die Gesellschaft, in der er lebt, mit den Waffen, die er auf derselben Gedankenwerkbank herstellt.

Die Paradiese, die mit guten Gedanken und guten Absichten in der menschlichen Seele errichtet werden, umhüllen im Laufe der Zeit die ganze Welt und verwandeln alles um sich herum und jedes Herz in einen Garten Eden. Schlechte Gedanken und schlechte Absichten hingegen lassen die Menschen sogar im Paradies Blut und Eiter trinken.

Ja, sowohl die Unmenschlichkeit als auch die Engelhaftigkeit erscheinen zunächst als ein Kern in der menschlichen Seele; durch Übung werden sie zu starken Überzeugungen, die dann wie ein reißender Strom alle Hindernisse überwinden, die sich ihnen in den Weg stellen, und ihr Ziel erreichen.

Über die Himmel hinaus in höchste Höhen aufzusteigen oder herunterzufallen und kopfüber im Sumpf zu versinken – es ist dem Menschen überlassen, für was er sich in seiner geheimen Prüfung entscheidet. Jeder Einzelne sollte sich an diesem schicksalhaften Punkt gut überlegen, welche Richtung er einschlägt. Wer diese Gelegenheit nutzt, kann mit der Unterstützung des endlosen Willens Gottes aufsteigen und das Unerreichbare erreichen. Die Unglücklichen aber, denen es an eigenen Bemühungen und der Unterstützung Gottes fehlt, werden sich nur noch an die Brust schlagen und ihr bitteres Ende beweinen.

Auch wenn der menschliche Wille aufgrund der ihm gesteckten Grenzen immer wieder Anlass zu Diskussionen gibt, ist er unbestreitbar das größte Geschenk des Schöpfers. Der Mensch kann sich an den Erhabenen Schöpfer wenden, ihm wurden Verantwortlichkeiten und Aufgaben anvertraut, er kann seine Gefühle und Gedanken kontrollieren, seinen Geist anregen und sein Herz berauschen, sich selbst umformen und neu erfinden. Mit Seinem Willen unterstützt Er unseren Willen, mit Seiner Kraft verleiht Er uns in unserem Unvermögen Stärke und bereichert uns mit Seinem Reichtum.

Ja, der Mensch an sich ist machtlos; aber mit der Kraft des Schöpfers ist er überaus mächtig. Seine Mittel sind begrenzt; aber er ist außerordentlich reich dank der göttlichen Schätze. Sein Verständnis ist begrenzt, er ist aber äußerst verständig dank der erleuchtenden Gebote Gottes. Sein Leben ist kurz, aber dank seiner grenzenlosen Absichten und Gedanken ist er ein Anwärter auf die Ewigkeit. Er ist der Schatzmeister, der den Schlüssel zu allem Guten in seiner Seele trägt – aber natürlich auch zu allem Schlechten.

Der Mensch verliert auch in den einsamsten und schwächsten Momenten nie die Fähigkeit, sich selbst vorzustehen und für sich selbst zu sorgen; er benutzt seinen Willen als Schlüssel, indem er über die Umstände nachdenkt, in denen er sich befindet, und indem er die Gesetze erforscht, an denen seine Existenz und sein Überleben hängen. Auf den Wegen, die er mit diesem Schlüssel öffnet, entdeckt er die Strudel des nefs und schafft es, sie zu überwinden. Er analysiert seinen Geist und erfasst so die Geheimnisse des Selbst. Auf diese Weise beginnt sich in ihm die Idee von Güte, Schönheit und Tugend zu entwickeln. So wie Gold und Diamanten in festgelegten Arbeitsgängen von Steinen und Erde befreit werden, können diamanten- und goldähnliche Geister in ihrer Essenz nur dann für alle sichtbar in Erscheinung treten, wenn sie sich anstrengen und darum bemühen.

Wer sein ganzes Leben lang darauf hinarbeitet, Mensch zu sein, und nach seiner Seele und seinem eigentlichen Wesen sucht, wird mit Sicherheit eines Tages auch Mensch sein und sich mit seiner Seele vereinen. „Sucht und ihr werdet finden; klopft an und es wird euch geöffnet!“2 Das ist ein göttliches Gesetz. Gemäß diesem Gesetz braucht es reine Absichten, systematisches Denken, unerschütterliche Entschlossenheit und ständige Anstrengung, um in die Himmel der Menschlichkeit aufzusteigen. Hierfür wurde dem Menschen schon vor seiner Geburt erste Hilfe geboten und weitere Unterstützung versprochen. Was bleibt, ist, auf dieser geheimnisvollen Wendeltreppe des Lebens, auf der nach jeder Windung neue Segnungen auf den Menschen warten, stetig weiter aufzusteigen. 

Anmerkungen

  1. Weyl: Wtl. „Wehe“, ein Ausdruck von Kummer und Sorge, auch eine Drohung. Gemäß einigen Hadithen ein Tal in der Hölle, in dem Heuchler und Kafirn wohnen (Anm. d. Red.).
  2. Die Bibel, Matthäus 7,7 (Anm. d. Red.).
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