Wissensethik leben


Im Einklang mit Natur- und Sozialgesetzen (Liebe zum Wissen 2)

Fethullah Gülen

Im ersten Teil wurden folgende Themen behandelt: Um die Zukunft zu gestalten, braucht es eine erneuerte Liebe zum Wissen, einen wachen Geist und das Bewusstsein für Ursache-Wirkung sowie einen bedingten Determinismus. Gesellschaften, die sich im bloßen Genussdenken verlieren, verfallen innerlich. Intellektuelle und Verantwortungsträger müssen Orientierung geben, hohe Ideale vermitteln und eine Kultur des Wissens fördern.

Im Gegenteil: Wenn wir den Menschen, statt ihm echte Wissensliebe und den Geist des Denkens einzugeben, mit tagespolitischen Reizthemen betäuben und in den falschen Glauben versetzen, ein bloßer Regierungs- bzw. Machtwechsel könne alles verändern, machen wir die Gesellschaft selbst zur eigentlichen Quelle der Probleme.

Probleme, deren Ursprung in der Gesellschaft selbst liegt, lassen sich weder durch den Druck der Macht auf das Denken noch durch den bloßen Wechsel der Amtsträger bzw. Machthaber an der Spitze lösen.

Selbst wenn man diese Probleme einmal löst, wird die sich wandelnde Welt mit ihren veränderten Bedingungen unaufhörlich neue Probleme hervorbringen.

Darum müssen wir den Problemen, die uns an jeder Wegkreuzung erwarten, mit Liebe zur Wahrheit, zur Erkenntnis und zum Denken entgegentreten.

Das Prinzip von Erneuerung und Entwicklung im Universum verstehen

Da die Existenz stets einem Prozess von Wandel und Vervollkommnung unterliegt, würde ein Sich-absondern von Existenz und Geschehnissen für uns bedeuten, dass wir uns selbst von allem isolieren und damit zwangsläufig mit den Gesetzmäßigkeiten und Abläufen des Universums kollidieren. 

Wobei wir unter dieser Vervollkommnung keine Veränderung oder Umwandlung im Sinne der Evolutionstheoretiker verstehen.

Ohne das Prinzip von Erneuerung und Entwicklung im Universum zu verstehen, lässt sich weder die Schöpfung noch die Mission des Menschen noch das Wesen des Menschen an sich begreifen.

In dieser Welt streben ständig unbelebte Dinge dem Leben entgegen; das Leben bewegt sich zur Bewusstwerdung und Erkenntnis hin; Dunkelheit und Licht wechseln sich fortlaufend und rhythmisch ab, und alles baut stufenweise aufeinander auf, um einen Horizont der Gotteserkenntnis zu bilden.

Alles strebt zum höchsten Ziel

Ja, genau wie alle Flüsse und Bäche, ob groß oder klein, in Richtung Meer strömen, fließen auch die Dinge und Ereignisse wie ein unaufhörlicher Wasserfall in die Unendlichkeit. Sie eilen vorwärts, prallen ständig an Hindernissen ab, um schließlich ins Meer zu gelangen; alles strebt danach, jenes einzigartige Ziel zu erreichen, das das höchste Ideal von uns allen darstellt.

Auch wir sollten mit großer Entschlossenheit und Einsatzbereitschaft, die über unsere Widerstandskraft und Macht hinausgehen, in solch einen Wasserfall hineinfließen. 

Dieser Wasserfall wiederum berücksichtigt sowohl unser Bewusstsein als auch unsere Willenskraft. Nur so können wir mit ihm gemeinsam der Zukunft entgegeneilen.

Wenn wir hingegen, während das Leben und die Existenz ihre eigenen Entwicklungsprozesse vollziehen, versuchen, Handlungen durchzuführen, ohne uns an den allgemeinen Einklang des Universums anzupassen – ähnlich wie wenn jemand eine Rolltreppe falsch betritt oder Drehtüren nicht gemäß ihrer Funktion durchschreitet –, ist es unausweichlich, dass solche Versuche von Entwicklung und Fortschritt zurückgewiesen und beiseitegeschoben werden.

In einer gesegneten Epoche haben wir – ebenso wie der Westen mit seiner eigenen Renaissance – das über Jahrtausende angesammelte Wissen der Menschheit genutzt und sind, gestützt auf die oben dargestellten grundlegenden Prinzipien, in unserer eigenen Entwicklung jeweils an einen bestimmten Punkt und Stand gelangt.

Eine Denkkultur für alle Schichten der Gesellschaft

Wenn wir nun daran denken, von einer neuen Entwicklung umfassend zu profitieren – und dies müssen wir unbedingt –, sollten wir erneut sorgfältig die Dynamiken überprüfen, die wir oben mehrfach indirekt angesprochen haben. Wir müssen aber unbedingt dafür sorgen, dass diese Dynamiken in allen Schichten der Gesellschaft etabliert werden.

Diese Prinzipien und der Geist sowie die Bedeutung, die sie vermitteln, sollten, wenn auch indirekt, tief im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert sein, in unseren Traditionen und Bräuchen gedeihen und Wurzeln schlagen. Keine gesellschaftliche Einrichtung – Familie, Schule, Gebetshaus, Wehrdienststelle – darf von diesem Geist und dieser Bedeutung ausgeschlossen werden.

Bereits auf den Grundschulbänken sollte die Seele der Kinder mit diesem Geist (des Wissens und Denkens) geformt, geprägt und beflügelt werden. In den späteren Phasen ihres Lebens sollten ihnen derselbe Geist und dieselbe Denkweise, angepasst in der Intensität, immer weiter vermittelt werden.

Tatsächlich gibt es etwas, das noch wichtiger ist als Wissen selbst: das Einprägen einer Geisteshaltung zum Wissen und ihrer Prinzipien in den Seelen, die diesem Verständnis und dieser Haltung zugrunde liegen. Diese Praxis, in jungen Jahren beginnend und altersgerecht fortgesetzt, ist mindestens so wichtig und nützlich wie die Muttermilch.

Wissensethik als Teil der Liebe zum Wissen

Darüber hinaus müssen diese Liebe zum Wissen und diese Wissensethik jedem einzelnen Mitglied der Gesellschaft, vom Kind bis zu den Älteren, unbedingt nahegebracht werden, um Spannungen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen aufgrund von Denk-, Philosophie- oder Kulturunterschieden vorzubeugen. Nur so können wir vermeiden, dass Menschenmengen in Konflikte verfallen, auseinanderbrechen oder in Streitigkeiten verwickelt werden.

Die ethische Dimension dieses Themas erfordert an sich eine separate Untersuchung, weshalb ich hier vorläufig auf eine spezifische, spätere Analyse verweise.  

error

Gefällt Ihnen der Artikel? Dann abonnieren Sie die Fontäne als Print-Ausgabe.

0

Dein Warenkorb