Das „denkende“ Herz

Das Herz ist der Motor des Lebens, ein Pumpwerk von unerreichter Ausdauer und Präzision. Wegen der zentralen Bedeutung für das Leben galt das Herz seit alters her auch als Sitz der Seele, der Liebe und Gefühle, der Sehnsucht, des Schmerzes und der Freude. Im Zeitalter aufsehenerregender Herzoperationen und Transplantationen und angesichts der weltweiten Versuche, ein künstliches Herz zu konstruieren, ist leider fast alle Mystik um das Herz verschwunden. Sie hat einem breiten, realitätsbezogenen Wissen um Funktion und Krankheiten des Herzens Platz gemacht. So brauchen wir -mehr denn je- Kardiologen mit „Herz“.

Mit dem Herzen hat es eine eigene Bewandnis: Das Herz ist ein einzigartiges Organ. Es ist für sich eine Welt, ja sogar „die Welt der Welten „. Das Herz ist nicht nur der biologische Mittelpunkt, sondern auch das moralische Zentrum unserer Existenz. Es ist im Wissen aller Völker und Zeiten: gut, rein, edel, aufrecht, aber auch verkehrt, falsch, verdorben, verhärtet – neutral bleibt es nie!

Es gibt kaum ein Substantiv, das die Menschen, sowohl im Westen als auch im Osten, in Europa oder in Amerika, im Norden oder im Süden, so häufig und in so vielen Verbindungen gebrauchen wie dieses eine: das Herz.

Obgleich man kaum etwas über den Aufbau und die Funktion wusste, wurde bereits in den alten Kulturen das Herz als Mittelpunkt angesehen, von dem Geist, Mut und Liebe ausgehen. Es galt schon fast immer als das Symbol für himmlische und irdische Liebe. Alle Gemütsbewegungen – alle die Affekte und Emotionen, alle Leidenschaften und Freundschaften, sie sind mit dem Herzen verbunden: Wer seine Gefühle verbirgt, verschließt sein Herz, wer heimlichtut, verbirgt sein Herz. Die für die Existenz des Menschen so zentrale Bedeutung des Herzens von Anbeginn an geht aus dem allgemeinen Sprachgebrauch deutlich hervor, wenn es heißt : Die Kinder werden von der Mutter unter dem Herzen getragen. Das Neugeborene windet sich gleichsam aus dem Herzen der Mutter, ehe es in den Geburtskanal gelangt, von wo aus es „ausgetrieben“ wird. Kinder kommen von Herzen und gehen wiederum zu Herzen. So fängt das an, und so bleibt es auch!

Wir pflegen mit dem Herzen viel über uns und andere auszudrücken: Da ist man „ein Herz und eine Seele“. Es kann einer oder eine einem ans Herz wachsen. Man möchte einen ins Herz schließen. Man kann sein Herz verschenken. Bisweilen sind jene Menschen besonders glücklich, die ihr Herz verschenkt oder die es ganz einfach verloren haben, beispielsweise in Heidelberg. Man kann etwas auf dem Herzen haben. Man kann sich ein Herz fassen, aber auch sein Herz an jemanden hängen. Es kann einem ein Stein vom Herzen fallen.

Andererseits kann „das Herz verstockt sein“ und man kann jemanden ins Herz treffen. Schließlich sollen Menschen an „gebrochenen Herzen gestorben“ sein. So kann einem manchmal das „Herz auf der Zunge liegen“ oder „das Herz vor Freude zerspringen“. Die Angst kann einem das Herz abschnüren. Manches kann mit Herzensangst einhergehen. Man kann sich etwas zu Herzen nehmen. Wie oft kommt es vor, dass wir etwas einfach nicht „übers Herz bringen“, dass man kaum zu sagen wagt, wie einem „ums Herz ist“. Und selbstbewussten Menschen sagt man nach, dass sie ein „stolzes Herz“ hätten.

Verwunderlich ist auch, was das Herz alles vermag: Denn es kann schlagen und klopfen, pochen und hämmern, es kann zittern und flattern, aber auch schmachten und jubeln, es kann stillstehen, aber auch aufwachen und erglühen, es kann stocken und versagen, brechen und zerspringen. Und da man sich einer Sache mit halbem Herzen zuwenden kann, lässt es sich offenbar auch „halbieren“.

Es gibt kaum ein Substantiv, das die Menschen, sowohl im Westen als auch im Osten, in Europa oder in Amerika, im Norden oder im Süden, so häufig und in so vielen Verbindungen gebrauchen wie dieses eine: das Herz.
Es gibt auch kaum ein Eigenschaftswort, das man nicht früher oder später mit der Vokabel „Herz“ gekoppelt hätte. Ein Herz kann warm und weich sein, treu und traurig, klein und kalt, heiß und hart, gütig und großzügig, stolz und steinern. Kurz: Es kann alles sein.

Groß ist auch die Zahl der Adjektive, die aus dem Wort „Herz“ gebildet werden. Wir sprechen von barmherzigen, engherzigen und hartherzigen, von herzlichen und herzhaften und herzgläubigen Menschen. Ohne das Herz kann bekanntlich niemand existieren, nur stellt sich meist heraus, dass gerade die herzlosen Menschen lange und gut leben. Etwas kann, herzerfreuend, herzerhebend, herzerschütternd, herzzerreissend, herzbeklemmend oder herzbrechend sein.

Was immer das Herz betrifft oder mit dem Herzen zusammenhängt – es hat eine lange, uralte Tradition.

Das Herz ist gleichsam das Sammelbecken aller sinnlichen Triebe und aller idealistischen Bestrebungen: Johann Wolfgang von Goethe nannte das Herz den „jüngsten, beweglichsten, veränderlichsten, erschütterlichsten Teil der Schöpfung“.
Bei Ghazzali (1058-1111), dem großen islamischen Ethiker und Mystiker, heißt es in seinem „Elixier der Glückseligkeit“, wo ein ganzes Kapitel den „Wundern des Herzens“ gewidmet ist, kurz und bündig: „Wenn wir vom Herzen sprechen, so wisse, dass wir damit das wahre Wesen des Menschen meinen, das man sonst bald Geist, bald Seele nennt, nicht aber jenes Stück Fleisch, das in der linken Seite deiner Brust sitzt; denn das hat keinen Wert -und auch die Tiere und die Toten besitzen es, und man kann es mit dem äußeren Auge sehen. Was da im Grunde des menschlichen Herzens vor sich geht, das ist verborgener als der schwarzen Ameise Tritt in schwarzer Nacht auf schwarzem Gestein.“

Was immer das Herz betrifft oder mit dem Herzen zusammenhängt – es hat eine lange, uralte Tradition. Seit die Menschen denken und ihre Gedanken ausdrücken und notieren konnten, war für sie das Herz ungleich mehr als nur ein Muskel. Es war der Ausdruck für alles Unbegreifliche, für alles Unfassbare. Und so unterschiedlich die alten Völker das Herz beurteilt haben, so wurde ihm doch stets eine zentrale Funktion zugesprochen.

Klare, wenn auch falsche Vorstellungen von der Funktion des Herzens hatten die alten Ägypter: Sie waren überzeugt, in ihm sei das Gewissen des Menschen untergebracht. Daher haben sie auch, um sich von der Redlichkeit eines Verstorbenen zu überzeugen, dessen Herz gewogen: Je schwerer es war, desto besser war sein Charakter. Die Chinesen wiederum glaubten, das Herz sei das intellektuelle Zentrum des Menschen. Auch die alten Griechen, Aristoteles zumal, haben das Herz keineswegs unterschätzt: Sie hielten es für das wichtigste Organ des menschlichen Körpers, sie waren sicher, dass alle anderen von ihm abhingen. Aber zugleich meinten sie, in ihm sei die Seele des Menschen zu finden.

Für die Muslime ist das Herz die „Kaaba Allahs“:
In der islamischen Kultur sind der philosophische oder auch psychologische Aspekt niemals vom religiösen zu trennen und so steht das „Herz“ im Zentrum des ganzen Organismus und des psychischen Lebens, und nicht das „Gehirn“. Darauf weist allein schon der Begriff „qalb“ hin, was von „taqallaba“ kommt und wörtlich die ständig sich wiederholende Auf- und Abwärtsbewegung eines Schlangenleibes meint, der auf dem Boden von der Sonne erhitzt wird. In seiner rhythmischen Bewegtheit ist „qalb“ aber auch die Mitte, das Zentrum, der Kern, der organische Kristallisationspunkt des Körpers. So spricht z.B. der Koran in einer überraschenden Definition vom „denkenden Herzen“ (Sure 22, Vers 46).

Das geheimnisvolle, tiefe und umfassende Wesen und die Gestalt des Herzens gelten also in vielen Kulturen nicht nur als Quelle der Kunst und Literatur allgemein, sondern auch als die Quelle des rationalen, experimentellen, aber auch des immateriellen Wissens. Dies kann und wird dem heutigen Menschen, der mit Rationalismus und positiven wissenschaftlichen Methoden arbeitet sicherlich grundlegend fremd und widersprüchlich erscheinen.
Doch auch als, in physiologischen Prinzipien im menschlichen Körper arbeitende „Pumpe“, ist das Herz ein „Wunderorgan“:

Schon wenn ein Embryo erst vier Wochen alt ist, beginnt das Herz sich zusammenzuziehen. Siebzig bis achtzigmal schlägt das Herz des Menschen in einer Minute, zweimilliarden- und fünfhundert-millionenmal in einem siebzig Jahre dauernden Leben. In dieser Zeit summiert sich die Blutmenge, die es durch den Körper treibt, auf zweihundertfünfzig Millionen Liter. Diese Kraft und die Anpassungsfähigkeit der Herzklappen an die unterschiedlichsten Anforderungen sind unvergleichlich. Die Technik hat keine Maschine hervorgebracht, die siebzig Jahre lang eine solche Leistung mit vergleichbarem Nutzen vollbringen könnte.

Wir bemerken z.B., dass das Herz bei Aufregungen oder körperlicher Belastung schneller schlägt, wir fühlen auch, wenn der Herzrhythmus unregelmäßig ist oder gelegentlich einen kräftigen Herzschlag, ohne dass die Schlagzahl erhöht ist. Das lässt uns bereits vermuten, dass das Herz an verschiedene Situationen extrem anpassungsfähig ist.

Das hängt mit seiner Funktion im Körper zusammen: Immer wenn sich der Herzmuskel zusammenzieht, wird Blut in den Kreislauf mit einem bestimmten Druck getrieben und damit werden Nährstoffe in die verschiedenen Organe transportiert. Das Transportsystem wird durch die Gefäße, die Arterien und Venen, gebildet. Für sie wird der Oberbegriff Kreislauf benutzt. Ein sehr empfindliches, automatisch arbeitendes Regelsystem spielt bei der Zusammenarbeit zwischen Herz und Kreislauf eine wichtige Rolle. Es ist einerseits verbunden mit den Sinnesorganen, die Hören, Sehen, Fühlen, Schmecken und Riechen vermitteln, andererseits mit den anderen Organen , um auf deren Bedürfnisse, z.B. bei sportlicher Tätigkeit, durch eine Steigerung der Durchblutung der Skelettmuskulatur zu reagieren.

Das so fein abgestimmte Herz-Kreislauf-System passt sich nicht nur den verschiedenen Altersperioden an; auch Störungen, wie Erkrankungen des Herzens und der Arterien oder Venen, können bis zu einem gewissen Grade kompensiert werden. Allerdings sind sie meist mit einer mehr oder weniger starken subjektiven oder objektiven Beeinträchtigung verbunden. Tatsächlich führen Herz-Kreislauf-Erkrankungen unter allen Krankheitsformen noch vor dem Krebs am häufigsten zum Tode. Zu den wichtigsten gehören die Durchblutungsstörungen des Herzens (Koronare Herzkrankheit) mit dem akuten Herzinfarkt, die Pumpschwäche des Herzens (Herzinsuffizienz), der Bluthochdruck (Hypertonie) und die Einengungen an den Gefäßen der Extremitäten und des Gehirns.

Auch wenn die moderne Medizin zur Zeit eine Vielzahl von medikamentösen, interventionellen und operativen Maßnahmen zur Hand hat, wie z.B. den Ersatz einer nicht funktionsfähigen Herzklappe (z.B. die Aortenklappe) durch eine künstliche Klappe, die Aufdehnung von eingeengten Herzkranzgefäßen (Ballondilatation = PTCA), die Wiedereröffnung eines akut beim Infarkt verschlossenen, das Herz mit Blut versorgenden Gefäßes durch Medikamente, die das Gerinnsel auflösen (sog. Lyse-Therapie) oder die Operation von Aussackungen der großen Arterien (Aneurysmektomie), die die Sterblichkeit bei diesen Krankheitsbildern ganz dramatisch gesenkt und damit die Überlebenschancen deutlich erhöht hat, ist es so wichtig, durch vorsorgende Maßnahmen dafür zu sorgen, dass das Herz-Kreislauf-System gesund bleibt, weil alle anderen lebenswichtigen Organe davon abhängen. Obwohl das Herz zäh und aus-dauernd ist, lässt es sich dennoch durch ungesunde Lebensweise (Stress, Übergewicht, viel Fett und Fleisch, Rauchen, Alkohol, Bewegungsmangel etc.) schädigen und schließlich ruinieren. Wer dagegen gesund ist und vernünftig lebt, spürt lange nichts von seinem Herzen, einerlei, ob er körperlich hart arbeitet oder im Bett liegt und schläft. Insgesamt jedoch lässt einen das Herz nicht so schnell im Stich.

Trotz, aber auch aufgrund des rasanten Wissenzuwachses in der Medizin und insbesondere in der Kardiologie, ist und bleibt das Herz für die Menschen weiterhin im „Mittelpunkt“: Weder Röntgendurchleuchtungen, Elektrokardiogramme, Koronarangiographien, Ballondilatationen, noch die elektropysiologischen Untersuchungen, Ablationen, Herzoperationen oder Herzverpflanzungen haben der Symbolik des Herzens nichts anhaben können, im Gegenteil: sie haben der Philosophie und Literatur neue Motive und Themen geliefert.

Aber nicht nur die Denker und Dichter unserer Zeit brauchen das Herzsymbol, das uralte Zeichen der Liebe. Das Herz der Kardiologie „pumpt, versagt, de- und kompensiert, de- und repolarisiert, infarziert, rupturiert, fibrilliert, wird physikalisch examiniert, palpiert, auskultiert, elektro- und echokardiographiert, defibrilliert, katheterisiert, abladiert, biopsiert, digitalisiert, explantiert, transplantiert“ und so weiter und so fort… Das Herz der „Kordiologie“ hingegen „singt, lacht, jubelt, weint, erwacht, erblüht, klagt, bebt, zerspringt, blutet, schmachtet, bricht, wird geschenkt, ausgeschüttet, verloren, im Sturm erobert. Es ist treu, trotzig, falsch, abgründig, sitzt am rechten Fleck, zittert, rutscht in die Hose und hüpft im Leibe!“

Eigentlich ist es nicht schlecht um das Herz bestellt. Schlimm wird es erst dann, wenn es nur noch auf seine mechanischen Bewegungen ankommt, auf seinen bloßen Rhythmus. Sind wir nicht -mehr denn je- auf Kardiologen („Herzspezialisten“) mit „Herz“ angewiesen ? Aber bitte, wo sind sie, diese Kardiologen?

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