Das leuchtende Band der Geschwisterlichkeit
In der Damaszener Predigt [von Bediuzzaman (1911)] wurden spirituelle Krankheiten genannt, die unserem Fortschritt im Weg stehen, u. a. die Verkennung der leuchtenden Verbundenheit unter Gläubigen. Was ist dieses leuchtende Band, das die Gläubigen vereint?
von Hikmet Işık
Der ehrwürdige Bediuzzaman hielt seine Damaszener Predigt zu einer Zeit, in der die islamische Welt mehr als je zuvor in der Geschichte einer Vielzahl von ernsten Problemen gegenüberstand. In diesem Kontext hatte der ehrwürdige Lehrmeister Mittel und Wege erforscht, Menschen, die im Laufe der Jahre aufgrund ihrer Untätigkeit förmlich eingerostet und nicht mehr zu gebrauchen waren, deren Neuronen abgestorben waren und die weder die Möglichkeiten noch die Fähigkeiten mehr hatten, aktiv zu werden, zu reaktivieren und ihre materiellen und immateriellen, ihre inneren und äußeren Sinne wiederzubeleben. Statt die Hoffnung der Menschen zu zerstören, und sie mit Chopins Todesmarsch in Todesstimmung zu versetzen, wurde er für den erstorbenen Willen der Menschen zu einer Quelle der Hoffnung, wie die Mehter-Märsche der Janitscharen: „Seid voller Hoffnung. Der lauteste Klang zukünftiger Revolutionen wird der Schall des Islams sein.“ Wenn man in der Morgendämmerung hoffnungsvolle Worte äußert, ist das keine große Kunst; in einer finsteren Zeit, in der nicht einmal Irrlichter zu sehen sind, sehr wohl!
Die Namen Gottes und geschwisterliche Bande
Der ehrwürdige Lehrmeister wies in seiner Predigt, die er vor etwa einem Jahrhundert in der Umayyaden-Moschee in Damaskus hielt, auf spirituelle Krankheiten hin, die unserem Fortschritt und unserem Aufstieg im Weg stehen. Anschließend unterbreitete er Rezepte, die der islamischen Welt zu neuem Leben verhelfen würden. Seiner Diagnose zufolge besteht eine der wichtigsten Krankheiten im Verkennen der leuchtenden Verbundenheit zwischen Gläubigen. Als Therapie empfiehlt er das Wiederbeleben von Einigkeit und Eintracht im Geist der Konsultation. Diesen Aspekt, auf den der Ehrwürdige in seiner Damaszener Predigt nur kurz eingegangen war, erläutert er ausführlicher in seinen Werken Lahika (die Anhänge), Ihlas (Wahrhaftigkeit) und Uhuvvet (Geschwisterlichkeit). In dem Brief Uhuvvet beispielsweise geht er darauf ein, dass es so viele Bande der Einheit und der Eintracht gibt, wie die Anzahl der Namen Gottes. Anschließend geht er auf weitere verbindende Elemente ein: Gott, Propheten, Religion, Qibla und Heimat. Er betont, dass man dieser Liste noch tausend Punkte hinzufügen könnte, was die Bedeutung der Thematik aufzeigt.
Unser Herr, der Prophet – Friede sei mit ihm –, erklärte gemäß einem Hadith, dass es etwa sechzig bis siebzig Bereiche des Glaubens gebe. Was will er damit sagen? Jeder einzelne dieser Bereiche ist ein Band, das uns unzertrennlich miteinander verbindet, genauso wie jede Wahrheit des Korans uns fest miteinander verbindet.
Auch wenn man sich der Thematik aus gesellschaftlicher Sicht nähert, kann man viele verbindende Elemente erkennen. Wir teilen seit Langem das gleiche Stück Erde und bezeichnen es als Heimat. Wir sind Kinder des gleichen Schicksals, der gleichen Kultur und der gleichen Erziehung. Wir teilen Unterdrückung, Benachteiligung und Verurteilung. Der Ehrwürdige wies darauf hin, dass Haltungen und Handlungen, die Gegnerschaft, Trennung, Hass und Feindschaft hervorrufen, große Pein bedeuten, wohingegen Einigkeit und Eintracht als gemeinsame Nenner zu Nähe und Geschwisterlichkeit führen.
Nicht auf der eigenen Meinung beharren
Damit die leuchtende Bande zwischen Gläubigen keinen Schaden nimmt, muss jeder Einzelne bereit sein, sich unter Umständen von eigenen Überzeugungen, Meinungen und Vorlieben zu lösen, um einen gemeinsamen Standpunkt einzunehmen. Oder mit den Worten des ehrwürdigen Lehrmeisters: Wenn man sich auf das „Gute“ einigen kann, sollte man sich nicht für das „Bessere“ entzweien. Wenn die Jagd auf das „Bessere“ also dazu führt, dass man übereinander herfällt, sollte man lieber innehalten und sich mit dem „Guten“ zufriedengeben. Wenn man es schafft, um das gewöhnliche „Schöne“ herum Einigkeit zu erzielen, sollte man nicht Uneinigkeit in der Geschwisterlichkeit stiften, indem man das „noch Schönere“ oder das „weitaus Schönere“ will. Gott der Wahre macht Seine Hilfe von Einigkeit und Eintracht abhängig; eine Sache, die äußerlich nur „schön“ erscheint, ist doch in Wirklichkeit schöner als das Schönste, wenn man sich über sie in Einheit verständigt hat. Statt also aus Kleinigkeiten Streitfragen zu machen und so die Einheit zu gefährden, sollte man sich bemühen, den Geist der Brüderlichkeit zu bewahren. Das ist ungemein wichtig. Ein Mensch muss wissen, wann es an der Zeit ist, von der eigenen Meinung und eigenen Überzeugungen abzurücken und die Gefühle anderer zu berücksichtigen. Man sollte nicht zulassen, dass Detailfragen zu Spaltungen führen.
Beispielsweise ist es wichtig, das Gebet vorschriftsgemäß zu verrichten. Mit den Worten des Imams von Alvar: „Das Gebet ist eine Säule der Religion, es ist ein Licht. Das Gebet bringt das Schiff des Glaubens voran, das Gebet ist der Meister der Gottesdienste.“ Die Wahrheit des Gebets ist, dass der Mensch sich von sich selbst loslöst, zu einer Art Himmelsreise zu Gott dem Wahren aufbricht und sich wie in Seiner Gegenwart fühlt. Der Mensch sollte sein Herz noch während des Fassens der Absicht im Maße seiner Offenheit gegenüber dem Horizont des Wissens von allem reinigen, was nichts mit Ihm zu tun hat, sein Auge sollte nichts anderes sehen. Dann wird er wie in einer anderen Dimension unterschiedliche Manifestationen erblicken, wird berauscht und wie von Sinnen das Gebet verrichten. Im Gegensatz dazu ist das Gebet, so wie wir es durchführen, oft eher eine Formsache. Allerdings sollte man nie vergessen, dass das Gebet, auch wenn es nur formell verrichtet wurde, die Erfüllung gottesdienstlicher Pflichten darstellt, sofern es regelgerecht verrichtet wurde. Es ist nicht richtig, Menschen scharf zu kritisieren, die das Gebet nicht seiner wahren Bedeutung und seines wahren Gehalts entsprechend verrichten. Worauf es ankommt, ist, das Gebet auch in dieser Form zu akzeptieren, Einigkeit und Eintracht zu erzielen, und nicht im Bestreben nach der höchsten Stufe, den entferntesten, erhabensten und tugendhaftesten Zielen in Uneinigkeit zu verfallen. Auf der Suche nach dem Schöneren können einem Menschen, ohne dass er sich dessen bewusst ist, die hässlichsten Dinge passieren. Und das würde bedeuten, Gottes Nähe, Sein Wohlgefallen und Seine Gunst aufs Spiel zu setzen.
Das Gleiche gilt auch in Bezug auf die läuternde Pflichtabgabe Zekat. Vielleicht möchten wir die Menschen dazu ermuntern, freigiebiger zu sein, und bezeichnen daher das Geben des Vierzigstels als „Zekat der Geizigen“. Stattdessen solle man ein Zwanzigstel, ein Zehntel oder ein Fünftel als Zekat geben. Auch wenn das im Geist der Ermunterung zulässig ist, sollte man es nicht tun, wenn es die Tür zu Uneinigkeit öffnet oder zu Streit und Diskussionen führt. Man sollte sich auf die objektiven Regeln der Religion stützen. Einen Hinweis finden wir darin, dass der Gesandte Gottes – Friede sei mit ihm – einer Person, die zu ihm kam, um die Religion zu erlernen, sagte, er solle fünfmal am Tag das Gebet verrichten, einen Monat fasten und (ein Vierzigstel) Zekat geben; die Person sagte, dass er die Anzahl weder verringern noch erhöhen werde. Anschließend verfügte der Gesandte Gottes: „Wenn er die Wahrheit redet, ist er gerettet.“ Wenn man jedoch seiner subjektiven Einschätzung folgend das entfernteste Ziel als Schwelle zur Rettung betrachtet, dann schreckt man sein Gegenüber ab und hindert es daran, einige schöne Taten zu vollbringen. Vielleicht weckt man so auch Neid und Missgunst. Das Gesagte trifft auch auf andere Aspekte des Gottesdienstes zu.
Fazit: Menschen zu ermuntern, einen bestimmten Horizont zu erreichen oder Menschen auf einen bestimmten Horizont beziehungsweise einen bestimmten Kreis zu beschränken, sind zwei grundverschiedene Dinge. Wenn wir in unserem Herzens– und Seelenleben einen gewissen Horizont erreicht haben, rufen wir Menschen dazu auf, dies ebenfalls zu tun. Es ist aber wichtiger, an Punkten, die zu Zerwürfnissen führen könnten, Zugeständnisse zu machen und auf dem Boden der Einigkeit zu bleiben. Wir sollten also jederzeit nach Mitteln Ausschau halten, die der Einigkeit und der Eintracht dienen und alles in unserer Macht Stehende tun, um unsere Einheit und Geschlossenheit zu bewahren.