‚Scheich Google‘ – Der neue Umgang mit (religiösem) Wissen

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Stellen Sie sich vor, Sie bekommen seit frühester Kindheit religiöse Bildung vermittelt. Weil es ein Feld ist, das Sie interessiert, lesen Sie allerhand Grundlagenliteratur, sodass Sie in groben Zügen über Themen des religiösen Lebens Bescheid wissen. Dieses Interesse möchten Sie in eine Profession umwandeln, und Sie fangen an, sich an der Universität mit theologischen Diskursen zu befassen.

Nach einem mehrjährigen Studium, zahlreichen Auslandsaufenthalten und Sprachkursen und nach etlichen Stunden und Tagen der Recherche- und Lesearbeit fertigen Sie eine Abschlussarbeit an, die Ihre jahrelangen Mühen mit einem akademischen Abschluss krönen soll. Wieder verstreichen Jahre Ihres Lebens, in denen Sie sich intensiv mit einem theologischen Diskurs beschäftigen.

Gerade geben Sie wieder einmal ein Seminar oder halten einen Vortrag. Kurz nachdem Sie mit Ihren Ausführungen und persönlichen Überlegungen begonnen haben, strecken die Ersten ihre Hände in die Höhe. Aus Höflichkeit bitten Sie sie zu sprechen, obwohl Sie eigentlich wissen, dass dies ein Fehler ist. Denn schon ein flüchtiger Blick verrät Ihnen, dass Ihre Zuhörer mit Smartphones und Tablets bewaffnet sind, um auf ein Zucken von Ihnen hin ihr ‚globales Gehirn‘ einzusetzen.[1] Sie sind Jünger jenes Gelehrten, der weltweit zurzeit den größten Zulauf hat. Die Schar seiner Anhänger nimmt von Tag zu Tag zu. Die Rede ist von ‚Scheich Google‘!

Wer ist ,Scheich Google’?

Scheich (engl. auch Shaikh) ist der arabische Begriff für Greis, alter Mann. Generell werden damit Männer bezeichnet, die eine exponierte Stellung im sozialen, geistlichen und weltlichen Gefüge einnehmen. Insbesondere wird der Begriff bei muslimischen Ordensgemeinschaften und Gemeinden als Ehrentitel für das religiöse Oberhaupt verwendet, sodass er ein gewisses Autoritätsgefälle zwischen Lehrer und Schüler impliziert.[2]

‚Scheich Google‘ wiederum ist eine humoristische Bezeichnung für ein neuzeitliches Phänomen im Umgang mit religiösem Wissen. Dabei wird das Internet mit Hilfe der besagten Suchmaschine[3] nach Stichwörtern durchforstet, die eine Antwort auf einen religiösen (Rechts-) Fall oder eine Meinung zu selbigem liefern.

An dieser Stelle soll keineswegs die Internetrecherche verteufelt werden, denn sie bietet einen unschätzbaren demokratischen Zugang zu der gesellschaftlichen Ressource Bildung; und dieser Zugang ist es, der Menschen weltweit vernetzt und ihnen erlaubt, in ganz neuen Größenordnungen zu denken und sich emotional verbunden zu fühlen. Jedoch offenbart die Art und Weise, wie mit dieser Ressource umgegangen wird, welche Probleme diese Flut an Informationen mit sich bringt. Auch im Bereich des religiösen Wissens wird einer Vielzahl von Nutzern ermöglicht, sich weiterzubilden; andererseits sind die Gläubigen auf die Probleme, die dabei auftauchen mögen, vielfach nicht ausreichend vorbereitet.

‚Gegoogeltes Wissen‘

Die Nutzer von Daten aus dem Internet[4] sind davon überzeugt, dass die von ihnen verwendeten Informationen der Wahrheit entsprechen. Vorzugsweise gleichen sie gefundene Links mit der Webseite Wikipedia ab, sodass sie ihr gegoogeltes Wissen getreu der Devise: „Das steht auch bei Wikipedia!“ argumentativ nach außen hin vertreten können.

Das Internet ist zu einem globalen Gedächtnis geworden, das im Vergleich zum menschlichen Gedächtnis einen entscheidenden Vorteil bietet: Jeder kann jederzeit und an jedem Ort beliebig viele Informationen abrufen. Weltweit nutzen etwa 67% aller Nutzer die Suchmaschine Google, in Deutschland sind es sogar 95% aller Internetsurfer.[5]Allerdings präsentieren das Internet und die entsprechenden Suchmaschinen reine Informationen, ohne zu wissen, wer warum und mit welcher Intention die entsprechenden Daten eingestellt hat.

Wichtig im World Wide Web sind Meinungen, die beliebt sind. Unbeliebte, unbequeme und teilweise auch wissenschaftliche Daten werden wegen ihrer geringen Popularität durch den Google-Algorithmus nach hinten selektiert. Dies geschieht auf Grundlage der von der Suchmaschine (über die sogenannte I(nternet)P(rotokoll)-Adresse) ermittelten persönlichen Vorlieben des Nutzers, und erfolgt auch länderspezifisch. [1]

Damit ist es zwar nach wie vor der Nutzer, der die Entscheidung trifft, welche Informationen er als Wissen anreichern möchte; doch erleichtert der Suchalgorithmus ihm die Recherche, was in der Praxis bedeutet, dass ihm bestimmte Informationen vorenthalten werden, da sie der Algorithmus als (gesellschaftlich) nicht relevant klassifiziert. Trotzdem hat der Nutzer das Gefühl, gut informiert zu werden, und neigt daher dazu, die ihm angebotenen Informationen unkritisch aufzunehmen.[2]

Gleichzeitig wird dem Nutzer ein anderer, vielleicht eigentlich besserer oder zumindest gleichwertiger Wahrheitsanspruch vorenthalten. Diese Wissensmonotonie schränkt die Zahl der möglichen Versionen von Sichtweisen auf das Leben ein und führt womöglich dazu, dass sich dogmatische Meinungen gesellschaftswirksam durchsetzen.

Ebenso verändert die häufige Nutzung der Suchmaschine den Nutzer und seine Art und Weise, mit Informationen und der Anreicherung von Wissen umzugehen. Bei der Inanspruchnahme der Suchmaschine werden zumeist bestimmte Informationsfragmente aus dem Gesamtkontext herausgelöst, weil der Nutzer in dem Moment alle anderen Informationen als unwichtig erachtet.[3] Man könnte in diesem Zusammenhang auch von einer Art utilitaristischer Wissensmentalität sprechen, die jegliche Informationen, die nicht sofort verarbeitet und verbraucht werden können, herausfiltert.

Dieser kulturelle Prozess der Wissensaneignung bringt einen neuen Typus Mensch hervor. Dem modernen ‚Suchmaschinen-Menschen‘ wird nicht die intensive Beschäftigung mit einem Fach-, Interessengebiet oder der Allgemeinbildung abverlangt. Vielmehr zeichnet er sich dadurch aus, dass er nichts wirklich kann (im Sinne von beherrscht) und trotz alledem aufgrund seiner technischen Kenntnisse mit oberflächlichem Wissen durchs Leben ‚rutscht‘.

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