Eine Denkkultur des Wissens


Fethullah Gülen

Während wir versuchen, unsere Liebe zum Wissen und unseren Willen zum Denken aufs Neue zu entfachen, dürfen wir weder die Realität noch den Erfahrungsschatz der Menschheit aus den Augen verlieren.

Unsere Wahrnehmung der Realität sollte stets unter der Obhut des Verstandes und der Kontrolle des Gewissens stehen. Sie sollte auf derselben Ebene stehen wie unsere Fähigkeiten zu sehen, zu hören, zu schmecken, zu riechen und zu tasten.1

Beispielsweise sollten universitäre Einrichtungen, Forschungszentren und Veranstaltungen wie Konferenzen, Symposien oder Panels diese Realitätswahrnehmung stets unterstützen und in uns die Liebe zur Wissenschaft sowie die Begeisterung dafür wecken.

Innerhalb des Kausalsystems2 ist es unsere Pflicht, die Ursachen zu beachten. Sie zu ignorieren, würde einer absoluten Willkür3 gleichkommen, in der kein Raum mehr für den freien Willen bleibt.

Der Mittelweg besteht darin, so sorgfältig und vorsichtig auf die kausalen Ursachen zu achten, dass nicht einmal die kleinste Lücke entsteht.

Zugleich sollten wir mit Zuversicht auf Gott vertrauen, sodass uns nichts von diesem Gedanken ablenken kann.

Mit Sicherheit gilt die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung4 als wichtig.

Allerdings sollte in unserem Denkverständnis kein starrer Determinismus Platz finden.

Allenfalls könnte man von einem dem Mittelweg entsprechenden, bedingten Determinismus ausgehen.

Wie weit eine solche Auslegung akzeptabel ist, ist nicht gewiss.5

Jedoch wissen wir, dass in unserer Tradition bereits intensiv über Kausalität6 und die Verhältnismäßigkeit der Ursachen7 nachgedacht wurde und verschiedene Ansichten existieren.

Wenn wir davon ausgehen, dass ein „starrer Determinismus“ meint, dass dieselben Ursachen in derselben Umgebung zwingend die gleichen Ergebnisse hervorbringen, ergibt sich von selbst, dass wir für einen „bedingten Determinismus“ offen sind.

Ein bedingter Determinismus im gesellschaftlichen Leben – zwischen Gesetzmäßigkeit und freiem Willen

Betrachten wir nun diese Überlegungen – über einen bedingten/kompatiblen Determinismus – nach unseren Maßstäben, zeigt sich: Auch in sozialen Zusammenhängen fungieren Ursache und Wirkung – wenn auch nicht so strikt wie in der Physik – bis zu einem gewissen Grad als wirksames Prinzip.

In dieser Hinsicht ist es notwendig, dass wir bereits heute darüber nachdenken, welche Auswirkungen unser gegenwärtiges Handeln und Verhalten zukünftig auf die Gesellschaft haben werden. Damit wollen wir betonen, dass es für einen geregelten und harmonischen Ablauf unseres individuellen und gesellschaftlichen Lebens notwendig ist, vorab einen Plan zu haben. Und alle mit unserem individuellen und gesellschaftlichen Leben verbundenen Dinge im Rahmen dieses Plans umzusetzen.

Das zukünftige Fortbestehen unserer heutigen Gesellschaft, das zukünftige Dasein eines heute bestehenden Staates und auch das Einnehmen seines Platzes im zwischenstaatlichen Gleichgewicht hängen allesamt von einem solchen Plan und einer solchen ersten Initiative ab. Dies gelingt nur, wenn Gegenwart und Zukunft – einschließlich möglicher Ergebnisse und Folgen – vorausschauend visualisiert, in Alternativen durchdacht, dokumentiert und digital festgehalten werden. Andernfalls ist es unvermeidlich, dass man von unerwarteten Entwicklungen überrascht wird, die sowohl von innerhalb als auch von außerhalb der Gesellschaft kommen können.

Wenn die grundlegenden Prinzipien, die die folgenden Projekte, Einrichtungen, Institutionen und Ämter betreffen, nicht im Hinblick auf unsere Gegenwart und Zukunft unter dem Gesichtspunkt von Ursache und Wirkung betrachtet und bewertet werden, dann kann niemand garantieren, dass die zukünftigen Schülerinnen und Schüler, die in diesen Institutionen geschult wurden, nicht zum Werkzeug von Unruhe und Chaos werden:

die heutigen Schulen samt Lehrplänen,

die Universitäten und ihre Systeme,

die Projekte für Pflegeeinrichtungen und elternlose Kinder,

die Schüler und die Konzepte an den Schulen,

die Gemeinschaft in den Gebetshäusern,

die Soldaten in der Kaserne,

die Polizisten auf der Wache,

die Beamten in den Behörden,

die Arbeiter in den Fabriken.

Ansonsten kann auch nicht die Rede davon sein, dass wir in jeder Hinsicht zufriedenstellende und ganzheitlich gebildete vollkommene Menschen heranbilden … genauso kann auch der gesellschaftliche Frieden nicht garantiert werden … das Gotteshaus kann seiner geistlichen Aufgabe nicht gerecht werden … die Schule kann in dem Fall nicht so heilig sein wie die Gebetshäuser … und die Massen werden der Orientierungslosigkeit nicht entkommen können.

Wir können nicht einfach in unseren Häusern sitzen und darauf warten, dass alles wie durch Zauberhand in einer anderen Welt vorbereitet und uns zu Hilfe geschickt wird. Mehr noch: Wir müssen uns klar darüber werden, ob wir wirklich am gesellschaftlichen Leben teilhaben oder nicht.

Wenn in einer Gesellschaft die folgenden Einstellungen vorherrschen – selbst wenn einige dieser Gedanken theoretisch zutreffend sein mögen –, bedeutet es letztlich einfach, dass diese Gesellschaft hinsichtlich ihres geistlichen spirituellen Lebens tot ist:

„Der Mensch sollte einfach versuchen, seine Zeit in dieser Welt gut zu verbringen …

mach dir keinen Kopf darüber, was die Zukunft bringt …

(ganz im Sinne von Umar Khayyam): Vergangenheit und Zukunft – alles nur Märchen;

genieße dein Leben, verschwende es nicht mit Grübeleien …

iss, trink und habe Spaß …

oder wirst etwa du die Welt retten …

Wer zu viel denkt, der verliert seinen Verstand …

Das Genießen von Gottes Gnadengaben ist doch auch ein Gottesdienst.“

In einem solchen Fall ist es Aufgabe der Intellektuellen und Verantwortungstragenden, sie in all ihren Schichten aus diesem erschreckenden Denkverfall und seelischen Dahinvegetieren herauszuführen, auf hohe Ideale auszurichten und mit einer Denkkultur des Wissens aufzuklären.  

Anmerkungen

Der Satz besagt, dass unsere „Wahrnehmung der Realität“ so selbstverständlich und grundlegend wie ein sechster Sinn sein sollte – vergleichbar mit Sehen oder Hören. Dabei soll diese Wahrnehmung nicht beliebig oder subjektiv sein, sondern vom Verstand und Gewissen geleitet werden. So wird Realität nicht willkürlich, sondern reflektiert und verantwortungsvoll, nach klaren Prinzipien erfasst. Verstand und Gewissen setzen die Maßstäbe für unsere Wahrnehmung, damit wir die Realität reflektiert, verantwortungsvoll und nach festen Prinzipien erfassen.

Ein Kausalsystem ist ein System, bei dem jede Wirkung eine Ursache hat und nur von der Vergangenheit oder Gegenwart beeinflusst wird – nicht von der Zukunft.

Beispiel: Wenn man einen Ball wirft, bestimmt die Kraft der werfenden Hand (Ursache), wie weit der Ball fliegt (Wirkung). Man kann aber nicht wissen, wo der Ball landen wird, bevor er geworfen wurde.

„Cebrilik” wird mehrheitlich als absoluter Determinismus verwendet, jedoch ist hier das Gegenteil, also „Willkürlichkeit”,gemeint. In beiden Fällen gibt es keinen Platz mehr für den individuellen freien Willen und göttliche Wunder.

Illet & ma‘lul.

Der Determinismus widerspricht in zentralen Punkten den islamischen Lehren über freien Willen, Verantwortung, göttliches Wissen, Gebet und moralische Entscheidungsfreiheit, weshalb der Lehrmeister Unsicherheiten betont und von einem „bedingtem Determinismus“ spricht. Denn während die heutige Wissenschaft von einem strengen Ursache-Wirkung-Prinzip ausgeht, sieht der Islam die Kausalität als ein von Gott geschaffenes und lenkbares System, das Veränderungen zulässt und Gottes absolutem Willen untergeordnet ist. So bleibt Raum für menschliche Freiheit, göttliche Änderungen und individuelle Verantwortung.

Kausalität = illiyet.

Tenasüb-ü illiyet.

error

Gefällt Ihnen der Artikel? Dann abonnieren Sie die Fontäne als Print-Ausgabe.

0

Dein Warenkorb