Die Menschheit braucht Liebe

Von M. Fethullah Gülen

Heute scheinen wir als Menschheit vergessen zu haben, wie man sich menschlich verhält.  Wir sind weit davon entfernt, unsere Andersartigkeit im Vergleich zu den anderen Arten der Schöpfung zum Ausdruck zu bringen. Trotz unserer wunderbaren Ausstattung, um die uns selbst die Engel bewundern würden, tun wir Dinge, für die sich selbst die bösartigen Geistwesen schämen würden.

Wir sind erfüllt von Hass, unsere Gemüter brodeln vor Wut, und wir begegnen uns mit rachsüchtigen Blicken. Unsere Herzen sind leer, seit langem sind wir uns der magischen Wirkung der Liebe nicht mehr bewusst. Ein Schleier der Feindseligkeit umgibt all unsere Gefühle.

Unsere Gedanken produzieren ständig negative Gefühle. Wir versuchen, alles uns gleichzumachen und diejenigen, die wir als die Anderen bezeichnen, unter unsere Kontrolle zu bringen.

Die meisten von uns leben trotz Vernunft und Logik unter der Führung von Emotionen. Unser offensichtlichstes Merkmal ist es, diejenigen zu unterdrücken und mundtot zu machen, die nicht so denken wie wir.

Wir folgen nur einem Pfad, ohne jemals in Betracht zu ziehen, dass es für manche Probleme alternative Lösungen geben könnte, und wir hinterlassen dabei nichts als Unheil und Zerstörung.

Uns auszudrücken, unser Herz zu offenbaren in der Sprache des Geistes, scheint für viele als eine veraltete Methode, die längst der Vergangenheit angehört.

Die trotzigen Gedanken, die aus unserem Egoismus hervorgehen, und die Konfrontation mit deren trotzigen Vertretern verursachen uns Herzrasen. Wir sind ständig in Rage, schäumen vor Hass, und wenn wir es uns leisten können, stehen wir auf und machen diese Vertreter nieder.

Wir treten andere nieder, wenn wir dazu in der Lage sind, und wir verunglimpfen die Ehre und Würde jener, deren wir nicht gewachsen sind. Wo möglich, bekämpfen wir sie mit medialer Macht und anderen Mitteln der Unterdrückung und setzen sie Gefahren aus, die schlimmer sind als der Tod.

Angesichts solcher negativen Zustände hört man heute überall auf der Welt entweder das Grollen der Unterdrücker oder die Hilferufe der Unterdrückten.

Unheil und Unterdrückung auf Erden 

In manchen Ländern herrscht seit vielen Jahren Unterdrückung und Leid.

Die Fähigkeiten des Verstandes sind abgestumpft, Gefühle und Begeisterung sind erstickt, die Mehrheit ist ihrer eigenen Werte entfremdet und die Meinungsverschiedenheiten sind unüberbrückbar. Jeder ist dem anderen ein Wolf, um es mit dem Bild des Philosophen Hobbes zu sagen. Der eine sticht dem anderen die Augen aus und tötet ihn, der andere verübt Attentate gegen den Ersten. Allerorten finden Grausamkeiten statt, die den Grausamkeiten der Wildtiere gleichkommen oder sie sogar übertreffen. In vielen ist keine Spur mehr vom humanem Geist, der Mechanismus des Gewissens scheint gelähmt, der Wille verfolgt tyrannische Pläne; der Verstand, der als Observatorium der Gotteserkenntnis dienen soll, ist unreinen Emotionen ausgeliefert; die Welt der Emotionen, die eigentlich die reine Quelle der Liebe darstellt, ist ein Nest von Schlangen und Riesenläufern geworden; das Herz, das als ein Beobachtungspunkt der Wahrheit (Haqq) dient, ist ein Korridor geworden, dessen Licht völlig erloschen ist. Der Mensch befindet sich in einer unwegsamen Fremde, er hat den Zweck seines Lebens verfehlt.

Obwohl es im Kreislauf historischer Wiederholungen immer wieder zu ähnlichen negativen Erfahrungen kam, waren die Zerstörungen und das Unheil dieses Mal ganz anders und erschreckend, was zum Teil auf die globalisierte Welt und den Beitrag der fortgeschrittenen Technologie zurückzuführen ist. Beim täglichen Blick ins Internet und Fernsehen und in die Zeitungen und Zeitschriften überkommt uns ein Schauder des Entsetzens. Selbst wenn wir unsere Augen schließen und uns die Ohren zuhalten, dringen einige der Negativitäten unaufhaltsam in unser Vorstellungsvermögen ein und treffen wie eine Harpune in unsere Brust und hinterlassen in unseren Herzen und Seelen unheilbare Wunden.

Immer wieder erreicht uns ein unerträgliches Maß an Leid, und wir leiden mit jenen, die sich in Blut und Tränen winden, und gehen mit ihnen zugrunde, wenn ihre Zivilisationen zusammenbrechen und untergehen. Es ist, als ob ein Herbststurm durch jede Region weht. Die Menschen gleichen welkenden Blättern, die absterben und zu Boden fallen.

Mit den Worten von Akif: 

Zerstörte Länder, 

zerstörte Heimaten, 

Gemeinschaften ohne Häupter / 

niedergerissene Brücken, 

zusammengebrochene Kanäle, 

Straßen ohne Reisende / 

Glaubensgeschwister, die ihre eigenen Glaubensgenossen töten und nennen es „Ghaza“* [eine Expedition, um Gotteswohlgefallen zu erlangen] /

öde Wohnstätten, 

verlassene Dörfer, 

eingestürzte Dächer / 

Die Tage ohne Leistungen,

Abende ohne einen Zukunftsgedanken!

Das, was auf uns einfließt, verwandelt sich in Schreie, während wir uns angesichts unserer Ohnmacht nichts tun können als zu stöhnen.

Obwohl alle darauf warten, dass wir ihnen die Hand reichen, brechen sie oft in tiefster Trauer zusammen angesichts unserer Gleichgültigkeit oder Ohnmacht. Sie brechen zusammen in Anbetracht unserer Gefühllosigkeit und Untätigkeit, weil ihre Hilferufe ungehört verhallen. Es gibt einige wenige, die diese Hilferufe wahrnehmen und fühlen, jedoch sind auch sie kraftlos und ohne Möglichkeit. Aus diesem Grund erleiden sie unendliche Qualen, wenn sie diese Geschehnisse mit ansehen. Sie bringen ihre Gefühle mit den lodernden Tönen von Suzi zum Ausdruck und verfallen in eine reglose Starre:

Es regnen keine Regenschauer,

Auch Tulpen wachsen nicht, 

ist dieser unser Zustand von Dauer?

Aus den Gnadenflüssen für die Heimat,

bleiben alle ehemals wehenden Brisen elendig …

Angesichts dessen ist man dermaßen enttäuscht und erschüttert, dass man beinahe sagen möchte: Die Massen werden sich also immer gegenseitig vernichten/zerfleischen … die Mengen werden stets aneinander geraten … Niemand wird niemanden von Herzen lieben … Menschen werden sich nicht umeinander sorgen … Dem ungerecht Behandelten wird niemand die Hand reichen … Dem Unterdrückten wird niemand den Kopf streicheln … Niemand wird mehr mit offenen Armen empfangen … Keiner wird dort sicher sein, wo er ist … Blutrünstige Wahnsinnige, die blutige Gedanken hegen, Blut sprechen und Blut vergießen, werden das Schicksal der Welt sein und ein Zeitalter der Tyrannei wird aufkommen …

Das kann so nicht weitergehen; wenn es so weitergeht, bedeutet das den Tod der Menschheit und der menschlichen Werte.

Plädoyer für Hoffnung und Liebe

Dann kommt und lasst uns in diesen Tagen des Scheidewegs ein weiteres Mal aus tiefstem Herzen Liebe und Geschwisterlichkeit bekunden, indem wir den universellen göttlichen Rufen lauschen, die in den Stimmen und Atemzügen von Yunus und Mevlana widerhallen.

So kommt! Lasst uns unsere Besonderheit als Menschen in all ihren Farben und Mustern erneut der ganzen Welt zeigen.

So kommt! Lasst uns in diesen Tagen, in denen Feindseligkeit, Groll und Hass das Antlitz der Welt verdunkeln, noch einmal mit aller Aufrichtigkeit uns der Liebe und dem Dialog verschreiben!

So kommt! Öffnen wir allen die Türen unserer Herzen, indem wir unser Gewissen entsprechend der Weite der göttlichen Barmherzigkeit erweitern!

So kommt! Hören wir auf, uns als Tropfen zu sehen, die dazu verdammt sind, auszutrocknen und zu verschwinden. Lasst uns stattdessen mit den Wasserfällen vereinen und zum Ozean werden! Wenn wir doch alle Menschen sind, bedeutet das, dass wir die Gene des Propheten Adam in uns und die Essenz der Wahrheit Ahmeds in unserem Wesen tragen.

So kommt! Lasst uns unsere Stimme so erheben, dass die Welten wachgerüttelt werden

und die Engel noch einmal die Besonderheit unseres Menschseins vernehmen,

indem wir allen teuflischen Trieben trotzen und zeigen, 

dass wir die Stellvertreter Gottes auf Erden

und Kandidaten zum Aufstieg gen Himmel sind!

So kommt! Lasst uns die Wege, die wir gehen, in einen klar erkennbaren umfassenden Boulevard verwandeln und uns Hand in Hand, Herz an Herz, Gott zuwenden.  

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