Menschen mit hohen Idealen

Von M. Fethullah Gülen

Der Mensch ist Opfer von Ziellosigkeit und fehlenden Idealen geworden. Entweder ist er wegen seines Mangels an Idealen auf seinem Willen schlummernd förmlich vermodert, oder er hat bei dem Versuch, willensstark zu sein, seine Umgebung zerstört, benimmt sich wie ein Anarchist, wie ein Nihilist. Ja, wenn er stagniert, frisst er sich selbst innerlich auf, und wenn er aktiv wird, zerstört er Werte der Religion, Religiosität, Moral und Gerechtigkeit. Ob er sich nun in sein Schneckenhaus zurückzieht oder ob er mit seinem sozialen Umfeld interagiert – es führt immer zu Problemen.

Er fristet ein rein körperliches Dasein: Der Magen ist aktiv, das Gehirn passiv, die Sinne sind aufgewühlt, aber der Existenz seines Herzens ist er sich nicht bewusst. Außer dem täglichen Klatsch hat er nichts zu bieten – keine Gedanken, keine Haltung und kein Projekt, das dauerhaft wäre, das erfrischend für die Seele wäre und ihn in die Zukunft tragen würde. Ist er schwach, hüllt er sein Umfeld in Schweigen. Wird er stärker, wird er gesprächiger – aber auch zerstörerischer … Wie Blätter, die im Herbst umhergeweht werden, treibt es ihn je nach Windrichtung hierhin und dorthin, und von Zeit zu Zeit bleibt er wie ein Halm irgendwo hängen und alles andere zieht an ihm vorbei.

Im Lauf der Jahre wurde aus dieser unseligen Wetterlage die Grundhaltung unserer Gesellschaft. Seit dem Tag, an dem sich die Gefühle, Gedanken und Träume des Menschen verengten und er sich gleichsam in eine Glasglocke zwängen ließ, verfiel er entweder in Minderwertigkeitskomplexe oder ergoss sich in Wahnvorstellungen. In beiden Fällen kämpfte er mit seinem nationalen Charakter. Leider geht dieser Krieg heute in anderer Form mit voller Geschwindigkeit weiter. Während die Welt die verschiedensten Projekte für ein neues Zeitalter schmiedet, winden wir uns zu einem großen Teil immer noch im Teufelskreis von nicht enden wollenden Krisen und Depressionen. Unsere Gedanken sind zerstreut, unsere Gefühle sind schal, unser Verhalten ist widersprüchlich und unsere Herzen sind gnadenlos. Die Massen sind Spielzeuge im Netz bedeutungsloser Gezeiten, die Gesellschaft ist jeden Tag hinter einem anderen Mihrab ‌her und die Anführer sind sorglos. Wirft man einen Blick in irgendeine Institution, zuckt man zusammen: Überall kocht und brodelt es. Es bricht einem das Herz, wenn man sieht, wie es um das Gedankenleben, die Moral, Kultur, Kunst, Politik, Wirtschaft oder das Recht bestellt ist.

Es ist, als ob auch die Gesellschaften um uns herum, die einst dasselbe Schicksal mit uns teilten und dieselben Unterdrückungen und Missstände erlebten, uns nacheifern, als würden sie mit uns in allen möglichen Schlechtigkeiten Kopf an Kopf liegen. An einigen Punkten sind sie uns im Negativen sogar einige Schritt voraus. Das Schicksal der Welt scheint darin zu bestehen, sich gegenseitig zu zerfleischen, ständig Kriege zu führen, Revolutionen anzuzetteln, der Gewalt die Vorherrschaft über das Recht einzuräumen und zu imitieren, ohne nachzudenken. Auf jeden Fall ist in einem Kampf, in dem selbst Adler besiegt werden, von Spatzen nicht viel zu erwarten.

Um das Schiff der Nation zu reparieren, das unter starken Erschütterungen leidet und Tag für Tag mehr mit Wasser vollläuft, und es für lange Fahrten vorzubereiten, bedarf es tapferer Menschen mit hohen Idealen, die ihren Glauben, ihre Entschlossenheit und ihre Hoffnung bis heute bewahrt haben, einen langen Atem haben, die dafür leben, andere zu beleben und bereit sind, von ihrem materiellen und spirituellen Wohlstand abzugeben – willensstarke, tapfere Menschen, die den Druck verschiedener „Wellenlängen“ und Formen, der seit Jahrhunderten über die Welt hereinprasselt, zerschlagen und zerstreuen, oder zumindest mildern und lindern. Menschen, die ihr eigenes Heil daran knüpfen, andere zu retten; die ihr Vermögen und ihre Zukunft anderen zu Füßen legen – für deren Glück; die sich so leicht wie Sauerstoff in den Adern eines jeden verbreiten; die wie Blut im Körper zirkulieren; die wie Wasserkaskaden Leben spenden, indem sie Sehnsucht und Gluthitze löschen; die alle ihre Handlungen mit einer Verantwortung verbinden, die sich in den Tiefen ihrer Seele zu einem Ideal formt.

Mit einem Willen der Barmherzigkeit, der die Grenzen ihrer individuellen Verantwortung überschreitet, und mit ihrer Liebe, die die gesamte Menschheit umfasst, versuchen sie, uns den Geist und den Sinn zurückzugewinnen, die wir verloren haben. Dank dieser Menschen mit diesen hohen Idealen, die uns daran erinnern, was uns als Menschen ausmacht, werden die Leiden derer, die Jahrhunderte lang gelitten haben, aufhören, wird die ganze Menschheit strahlen und die Welt vielleicht wieder ins Gleichgewicht kommen.

Das gemeinsame Schicksal der Menschheit beinhaltet ein Programm, das den Menschen keine absolute Isolation und getrennte Lebensführung ermöglicht. Selbst wenn wir unsere Augen und Ohren dazu verschließen, bringen uns die Geschehnisse auf unterschiedliche Weise viele Gemeinsamkeiten in den Sinn, ziehen uns in eine Atmosphäre geteilter Freuden und Sorgen statt individueller Gefühle und erinnern unser Gewissen an unsere Gesellschaftlichkeit. Denn so wie auf die eine oder andere Weise jede unserer Handlungen auch alle anderen berührt, betrifft auch uns jedes Ereignis, selbst wenn es sich im entlegensten Winkel der Welt abspielt.

Geradeso wie jeder unserer eigenen Schritte jeden unserer Mitmenschen auf die eine oder andere Weise beeinflusst, werden auch wir von sämtlichen Geschehnissen, und sei es in den entlegensten Winkeln der Erde, beeinflusst. Diese Wechselwirkung ist darauf zurückzuführen, dass wir alle Menschen sind, dass uns Emotionen und Gedanken miteinander verbinden. Uns wurde bestimmt, zusammen mit anderen Menschen zu leben, und wir wurden erschaffen, um zu teilen und Mitgefühl zu entwickeln.

Wenn die Menschen das Geheimnis begreifen würden, dass ihre Natur unweigerlich auf Zusammenleben programmiert ist, könnten sie sich – indem sie die Bestimmungen des Vorwissens Gottes begleiten würden – noch schneller vorwärtsbewegen. Wenn sie sich darüber hinaus bewusst und willentlich in diesen natürlichen Fluss begeben, werden sie der Natürlichkeit einerseits eine mentale, logische und willentliche Tiefe verleihen und das wahre Menschsein offenbaren, andererseits werden sie den Gotteslohn für das Bitten und Beabsichtigen erlangen. Ihr Wille wird ein Schlüssel sein, der das Ideal der eigenen Verewigung erschließt.

Aus diesem Grund sollte sich jeder, der an „ewiges Leben“ denkt, unbedingt dem Ideal des Heiles und der Umarmung anderer verschreiben, damit man auf dem Weg in die Ewigkeit von allen, die man rettet und umarmt, auch selbst umarmt wird. Selbstsüchtige, gierige und rücksichtslose Seelen jedoch, die ihre Rettung darauf gründen, andere zu zerstören, werden weder geliebt noch lieben sie selbst; stattdessen werden sie als lästig empfunden. Außerdem nützt eine Person, die sich für andere einsetzt, vor allem sich selbst, und eine Person, die anderen Schaden zufügt, schadet sich selbst. Eine Person, der es in der Natur liegt, anderen von Nutzen zu sein, ist in der Lage, selbst in den härtesten Herzen aus Granit einen Thron errichten und im Munde zu jedermanns zu werden. Sie muss nur ihrer Natur und ihrem Charakter Ausdruck verleihen und sich in der Sprache ihres Herzens äußern.

Egoistische, gierige, rachsüchtige, mitleidlose Menschen, die wie Fledermäuse fürs Überleben Trümmer und Ruinen benötigen, sind in dem engen Gefängnis ihrer individuellen Welten geblieben und haben nie die Weite einer gemeinsamen Welt gespürt. In der Enge ihrer Welten konnten sie keinen inneren Frieden finden. Solche Menschen haben ihr Herz und ihr Gewissen verloren und vor allem in ihrem Innern menschliche Werte ausgetrocknet, sie sind gewissermaßen herztot.

Solche egoistischen und verschlossenen Menschen sind der Inbegriff von Lethargie, sind lebende Leichname zwischen Tod und Leben, die weder die Wärme des Lebens noch die der Belebung spüren können.

Das wahre Leben ist ein Leben, bei dem man die Menschen von heute und morgen im Blick hat mit dem Ideal, für sie zu leben. Ein solches Bewusstsein, Verständnis und Gefühl, das jeden Schritt des Lebens vom Anfang bis zum Ende beherrscht, ist das vollständige Abbild und die vollständige Beschreibung des Charakters eines wahren Menschen. Jeder, der dieses Bild aufmerksam betrachtet, kann leicht erkennen, welche tiefe und herzliche Verbundenheit mit der gesamten Schöpfung dahinter vorhanden ist. In diesem Bild betrachtet ein Mensch sowohl sich selbst als auch andere mit den Augen des Herzens und bewertet, was sie sieht, mit den wertschätzenden Augen des Gewissens.

Dank einer solchen Sichtweise sieht der Mensch nicht nur seine eigene innere Welt besser, sondern kann auch seine Umgebung mit derselben Linse klarer sehen und kennenlernen. So erscheint ihm alles und jeder sanfter, weicher und wärmer. Eine solche innere Tiefe erreicht man jedoch nicht ohne Weiteres. Sie ist eine Manifestation des Mitgefühls, das nach einem langen Reifungsprozess in den Tiefen unseres Gewissens entstanden ist, ein Ruf der Menschlichkeit von der Zunge des Herzens. Dieser Ruf entspringt dem Gewissen des Herzensmenschen, der alles um ihn herum in seine Farben taucht, und mit der Zeit alles dazu bringt, in seiner Sprache zu sprechen. Da der Ruf direkt aus dem Herzen kommt, ist er keinen äußeren Einflüssen oder Parasiten ausgesetzt, die hier und da die Luft verschmutzen.

Eines Tages werden sich gewiss alle Geistwesen respektvoll diesem Willkommensruf in den Himmeln und auf Erden zuwenden, ein Ruf, der auf Glauben basiert und tiefe Güteerweisung ausdrückt. Gewiss werden die Tore des Himmels geöffnet, Gunstbeweise und Zuwendungen werden herabregnen. Dann werden alle Herzen voller Mitgefühl schlagen, denken, sprechen, handeln und alle Existenz mit Liebe umarmen.

An dem Tag, an dem die Erde zum leuchtenden Spiegel eines solchen Mitgefühls wird, werden auch wir das Leben inniger lieben und andere dazu bringen, es zu lieben, anderen die Wege des ewigen Lebens zeigen, indem wir uns endgültig von allem Schlechten lösen, das unserem Nefs anhaftet, und werden vom Horizont der augenscheinlichen Gewissheit unseres Gewissens aus einen besseren Blickwinkel auf uns selbst und auf andere einnehmen. Wir werden uns nicht nur mit dem Gedanken an das Gute und Schöne zufriedengeben, das wir tun können, sondern uns auch bemühen, das Gute und Schöne zu verwirklichen, das wir bisher nicht tun konnten. Wir werden Tag und Nacht von diesen bisher unzugänglichen Gipfeln träumen. Wenn das Unerreichbare erreichbar wird, werden die Rufe der Vermeldung der göttlichen Gunst (taḥdīth-i nʿimet) ‌ertönen. Angesichts von transzendentalen Idealen, die die Grenzen unserer Kraft herausfordern, werden wir stets in aktiver Erwartung sein und voller Hoffnung unseren Atem mit Glauben beflügeln.

In jedem Fall sollte eine solche spirituelle Ebene, die mit der Liebe zum Guten an ihre Grenzen geht, den tiefsten Aspekt und die bedeutendste Seite des Menschen bilden. So wird er sowohl in den Augen Gottes als auch in den Augen der Menschen die erhabensten Werte erreichen – die Tiefe der Schöpfung in bester und schönster Wertung (aḥsen-i ‌taqwīm). Die Sorge um andere als Ergebnis einer guten Beziehung zu Gott ist ein Ideal auf individueller Ebene. Der Ausruf „Mache mich zum Märtyrer, ehre meine Nation“1 drückt ein hohes Volksideal aus. Aussagen wie „Wenn ich den Glauben meines Volkes in Sicherheit sehe, bin ich bereit, in den Flammen der Hölle zu brennen“2 stehen für ein transzendentales Ideal. Und die ein universelles Mitgefühl ausdrückende Bitte „O Gott, vergib meiner Gemeinschaft, denn sie kennen mich nicht“3 gegenüber denen, die nach seinem Leben getrachtet haben, kennzeichnet ein verantwortungsorientiertes und tiefes Mitgefühl umfassendes Ideal.

Unsere Gesellschaft braucht nicht irgendwelche Helden – sie braucht Helden dieser Ideale, die ihre Hände zuerst der eigenen Nation und dann voller Mitgefühl der ganzen Welt entgegenstrecken und die jedes Mal, wenn sie ihre Hände zu ihrem Herrn erheben, für andere bitten. Da kein anderer den großen Bedarf nach solchen Menschen mit Idealen stillen kann, liegt es an uns, bei uns selbst anzufangen und auf seine Dringlichkeit hinzuweisen.  

Anmerkungen

Ein berühmtes Bittgebet von Sultan Murad Hudavendigar vor der Schlacht in Kosovo.

Ein berühmtes Bittgebet von Bediuzzaman Said Nursi.

Buchârî, enbiyâ 54; Müslim, cihâd 104 – 105. Ein berühmtes Bittgebet des ehrwürdigen Propheten Muhammed während der Schlacht von Uhud, in dem er sich das Blut von seinem verletzten Kopf und von seinen Zähnen übers Gesicht strich und Gott darum bat, dass Er den Nichtgläubigen verzeiht, weil sie nicht wissen, wem sie dies antun (vgl. Buchârî 3477; Muslim 1792). In diesen beiden Hadithen werden überliefert, dass der Prophet (fsmi) über einen Propheten erzählt, dass ihn folgendes widerfahren ist: Sein Volk hat ihn blutig geschlagen und er wischte das Blut von seinem Gesicht und sprach: „O Mein Gott, vergib meinem Volk, denn sie wissen nicht was sie tun.“ Es wird im Lukasevangelium überliefert, dass Jesus Christus, eine Avantgarde der Liebe und des Mitgefühls, am Kreuz für die Vergebung seines Volkes gebetet hat: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lukas 23:34).

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