Pluralismus
Von Hikmet Işık
Pluralismus ist in der globalisierten Welt zu einem der geläufigsten Begriffe geworden. Obwohl der Begriff des Pluralismus als Konzept der Neuzeit angehört, war er schon in den ersten Zeiten, in denen der Islam richtig gelebt wurde, als ein unbenannter Bekannter vorhanden.1 Die Gläubigen begegneten unterschiedlichen Gefühlen, Überlegungen und Ideen mit Respekt und behandelten jeden mit Toleranz.
Zunächst einmal muss man wissen, dass es selbst zur Zeit der Gefährten, die in den Augen Gottes die allerbesonderste Gemeinschaft waren, keine absolute Einigkeit2 gab. Es gab unter ihnen viele verschiedene Orientierungen und unterschiedliche Ideen. Wenn Sie sich das Leben von dem ehrwürdigen Omar und Ebu Zerr oder dem ehrwürdigen Ebu Bekr und Bilal der Abessiner ansehen, werden Sie sehen, wie groß die Unterschiede zwischen ihnen sind. Doch jeder von ihnen ist ein Mensch, der sich aus derselben Frischwasserquelle3 speist, dieselbe geistige Nahrung erhält und auf dasselbe Ziel zugeht. Trotzdem gibt es gravierende Unterschiede in ihren Interpretationen, ihrem Verständnis und ihrer Lebensweise.
Auch wenn die Denk- und Lebensweisen der Muslime in späteren Epochen im Rahmen primärer Bezugsquelle4 wie dem Buch, der Sunna, der Konsensus5 und dem Analogieschluss6 oder sekundärer Bezugsquelle7 wie Gewohnheit8, Tradition9, Gemeinwohl der Zielsetzung10 und das „Für-besser-Halten“11, die diese ergänzen, geformt wurden, bestanden weiterhin Unterschiede.
Obwohl sie sich auf dieselben Quellen bezogen, die ihr Denken und ihr Leben bestimmten, brachten sie für die Probleme, auf die sie stießen, oft unterschiedliche Lösungen. Zum Beispiel haben sie eine sehr aufrichtige, reine und ehrliche Rechtsprechung vorgelegt, und zwischen ihnen besteht ein Lehrer-Schüler-Verhältnis. Wie groß ist der Unterschied zwischen der Rechtsprechung von Imam Malik und Imam Shafi‘i oder Imam Shafi‘i und Ahmed Ibn Hanbel!
Tatsächlich haben Imam Muhammed und Imam Ebu Yusuf sehr unterschiedliche Auffassungen voneinander, obwohl sie beide unter der Anleitung von Imam Ebu Hanife ausgebildet wurden.
Denn jeder Mensch hat unterschiedliche Gefühle, Wahrnehmungen und Interpretationsfähigkeiten. Wenn es selbst unter den Mudschtehids, die ihr Leben ganz im Sinne des Koran und der Sunna führen, solche Unterschiede gibt, kann man sich vorstellen, welche Differenzen auftreten werden, wenn dieses Anliegen auf der Ebene des einfachen Volkes vertreten wird.
Die Muslime haben die Vielfalt immer als eine Barmherzigkeit Gottes, des Allmächtigen, betrachtet, wie es in den Hadithen heißt, und haben sie mit Respekt und Toleranz begrüßt. All diese Unterschiede in der Gesellschaft haben ihrer Einheit und Solidarität keinen Abbruch getan.
Entwicklung der Erfahrung des Zusammenlebens
Wenn Menschen, die in unterschiedlichen kulturellen Umgebungen aufgewachsen sind, trotz ihres eigenen Verständnisses, Willens und Denkens versuchen, in Harmonie und Einigkeit mit anderen zu leben, werden sie dafür reichlich jenseitigen Lohn erwerben, sowie man Gottesdienst vollzieht. Denn der Mensch reagiert auf jede Handlung, die seiner eigenen Natur widerspricht.
Er will gegen unterschiedliche Auffassungen und Urteile vorgehen. Solche negativen Gefühle zu unterdrücken, erfordert eine ernsthafte Anstrengung und Bemühung, die eine große Belohnung darstellt. Der Gesandte Gottes (Friede und Segen Allahs seien auf ihm) ermutigte die Gläubigen auch zum Zusammenleben und riet ihnen, sich nicht von der Gemeinschaft zu trennen.
Trotz aller Unterschiede hängt die Fähigkeit der Menschen, Einheit herzustellen und als Mitglieder derselben Gesellschaft in Harmonie miteinander zu leben, davon ab, dass sie jeden Menschen so akzeptieren, wie er ist, und Unterschiede tolerieren. Ein solches Verständnis von Pluralismus ist ein Ergebnis von Gottes Barmherzigkeit.
Das Gegenteil ist Tyrannei und Despotismus, wo die Menschen durch Unterdrückung und Tyrannei regiert werden und allen eine bestimmte Lebensweise aufgezwungen wird. Es besteht kein Zweifel, dass dies die Grundrechte und – freiheiten bedroht, Talente abstumpft, die Gesellschaft blind macht und sie von der Welt isoliert.
Wenn die Muslime in einer globalisierten Welt nicht in eine enge, weltfremde und überholte Schublade gesteckt werden wollen, müssen sie mit anderen Kulturen und Nationen interagieren und sich der Welt gegenüber öffnen. Einerseits sollten sie die Menschen, mit denen sie zu tun haben, an ihre eigenen Werte heranführen, andererseits sollten sie von verschiedenen Kulturen und Zivilisationskreisen profitieren.
Dies ist der Fall, aber wenn selbst zwischen Menschen, die an dieselbe Religion glauben, dieselbe Qibla vor Augen haben und im selben kulturellen Umfeld aufgewachsen sind, schwerwiegende Konflikte und Differenzen auftreten können, ist es sehr wahrscheinlich, dass diese Konflikte noch zunehmen werden, wenn Menschen mit unterschiedlichen Religionen, Sprachen, Rassen und Kulturen zusammenkommen.
An diesem Punkt sollten die Muslime erstens erkennen, dass eine Kultur des Zusammenlebens in einer Welt, die zu einem Dorf geworden ist, unvermeidlich ist, und zweitens sollten sie die Erfahrung des Zusammenlebens mit Menschen verschiedener Religionen und Kulturen entwickeln.
Hierfür sind Prinzipien wie das Treffen auf den gemeinsamen Nenner der Menschlichkeit, das Zusammenkommen auf ein Minimum an Gemeinsamkeiten, also die Zusammenkunft auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, das Finden verschiedener vereinigender Punkte und das Akzeptieren jedes Einzelnen in seiner eigenen Position sehr wichtig.
In der heutigen Welt, in der Menschen mit sehr unterschiedlichen Gefühlen und Gedanken zusammenleben, sind einige Muslime besorgt, dass der Pluralismus zu einer gewissen Aushöhlung und zu Kompromissen bei den religiösen Werten führen könnte, und sie wissen nicht, wie sie sich in dieser Hinsicht verhalten sollen. Einige von ihnen können sogar feindselige Gefühle gegenüber dem „Anderen“ hegen und radikale Haltungen einnehmen. Zunächst einmal sollte man sich darüber im Klaren sein, dass Muslime nichts erreichen können, wenn sie Menschen anderer Religionen und Kulturen den Krieg erklären. Im Gegenteil, was getan werden muss, ist, die Beziehungen zu anderen so zu gestalten, wie der Ehrwürdige Wahre Gott den Menschen gemäß seinem „Menschsein“ Werte beimisst.
Unterschiede als Chance für Reichtum begreifen
Die Tatsache, dass wir akzeptieren, dass Unterschiede eine Realität sind, und eine entsprechende soziale Struktur schaffen, hindert uns nicht daran, Einwände gegen bestimmte Handlungen und Gedanken zu erheben und oppositionelle Kommentare abzugeben. Die Tatsache, dass wir mit Menschen mit anderen Weltanschauungen die gleiche Umgebung teilen und sogar mit ihnen zusammensitzen, bedeutet nicht, dass wir alle ihre Gedanken akzeptieren und gutheißen. Das Gleiche gilt auch für sie. Sie werden sich auch gegen einige unserer Ideen aussprechen. Das Wichtigste ist, dass diese Unterschiede nicht zu Konflikten führen. Um soziale Harmonie und Einheit zu gewährleisten, sollten die Unterschiede so weit wie möglich in den Hintergrund treten und die Gemeinsamkeiten hervorgehoben werden.
Menschen zu respektieren, nur weil sie Menschen sind, und Unterschiede als Tatsache zu akzeptieren, um dann realistisch und rational zu handeln und der Globalisierung gerecht zu werden, sollte nicht erfordern, dass wir unsere eigenen Werte opfern, Zugeständnisse machen und uns der Erosion aussetzen.
In welchem Maße wir auch immer Muslim sind, sollten wir in der Lage sein, es überall ohne Zögern zu leben. Wir sollten weder unsere religiösen Werte noch unser Verständnis des Islam oder unser Bewusstsein für Ihsan kompromittieren. Aber wir sollten sie niemandem aufzwingen. Wichtig ist, dass die Menschen lernen, miteinander zu leben, indem sie ihre Unterschiede schützen und sie sogar als Bereicherung sehen.
Ohne Zwang und Nötigung ist die Tatsache, dass Menschen sehr sensibel und ernsthaft die Werte leben, an die sie glauben, eine Sache, der man mit Respekt und sogar mit Anerkennung begegnen sollte. Wenn wir zum Beispiel in einer Versammlung mit Angehörigen verschiedener Religionen sind und es bereits Zeit zum Hauptgebet ist, sollten wir die Anwesenden, ohne zu zögern, um Erlaubnis bitten und unser Hauptgebet verrichten. Ich habe nie erlebt, dass die Gottesdienste in unserer Religion die Menschen, mit denen wir zusammen waren, gestört hätten. Wann immer wir zu ihnen sagten: „Wenn Sie uns entschuldigen würden, werden wir unser Hauptgebet verrichten“, haben sie immer mit Respekt reagiert.
Die Freiheit der Menschen, ihre Religionen zu leben, und ihr offenes und transparentes Verhalten werden den Beziehungen nicht schaden, sondern im Gegenteil das gegenseitige Vertrauen stärken. Solange es keine Krankheiten wie Starrheit, Härte und Fanatismus unter den Mitgliedern der Gesellschaft gibt und keine Exzesse, die andere zu Reaktionen provozieren, gezeigt werden.
Die Haltung des Gläubigen im Kampf gegen das Böse
Manche Menschen lehnen den Pluralismus ab, weil sie darin die Akzeptanz aller Arten von Extremismus, Perversion und Unmoral sehen. Es kann wohl sein, dass manche Menschen es sogar für ihr Recht halten, frei zu leben und allen Arten von Unmoral zu frönen, und dies als Voraussetzung für Demokratie und Freiheit betrachten. Es gibt bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen, die ein Gläubiger für richtig hält und gutheißt. Die Tatsache, dass wir etwas für falsch halten und es nicht akzeptieren – solange es nicht unser eigenes Recht, das Recht anderer und die Rechte der Öffentlichkeit berührt –, erfordert jedoch nicht, dass wir denjenigen den Krieg erklären, die ein solches Verhalten an den Tag legen. Tatsächlich hat unser Prophet (Friede sei mit ihm) ein Beispiel dafür gegeben, obwohl er lange Zeit sowohl mit den mekkanischen Polytheisten als auch mit den Heuchlern und Juden von Medina zusammengelebt hat.
Sollten wir uns also nicht an Einstellungen und Verhaltensweisen beteiligen, die wir für falsch halten, und versuchen, das Böse zu verhindern?
Damit ist nicht gemeint, dass wir angesichts des Bösen völlig still bleiben und nichts tun sollen. Natürlich sollten die Gläubigen in erster Linie mit gutem Beispiel vorangehen und dann, soweit es die Gelegenheiten und Möglichkeiten erlauben, die Wahrheiten, die sie für wahr halten, zum Ausdruck bringen. Es gehört zu den grundlegenden Pflichten eines Gläubigen, zu ermutigen, was getan werden sollte, und andere vor dem zu warnen, was nicht getan werden sollte, und zwar immer in angemessener Weise und unter Berücksichtigung der Gefühle der Menschen, so dass keine Reaktion hervorgerufen wird. Der wichtigste Punkt, den wir hier zum Ausdruck bringen wollen, ist, dass wir keine feindselige Haltung gegenüber den Lebensstilen zeigen, die manche Menschen als Voraussetzung für Demokratie und Freiheit ansehen, und zwar in einer Weise, die die soziale Harmonie stört und Fitne (Zwietracht) verursacht. Andernfalls werden die guten Werke, die im Namen von Verbesserungen und Reparaturen in der Zukunft getan werden können, bereits verhindert, wenn die Negativitäten hart angegangen werden.
Es lässt sich nicht leugnen, dass es heute eine ernsthafte Antipathie gegenüber Muslimen gibt, insbesondere in der westlichen Welt. Andererseits gibt es auch Muslime, die dem Westen gegenüber feindselig eingestellt sind. Das sind Auffassungen, die der Kultur des Zusammenlebens schaden. Aber hier sollten die Muslime sich selbst infrage stellen, bevor sie andere beschuldigen. Denn der Hauptgrund dafür ist, dass wir es nicht schaffen, sie rechtzeitig zu erreichen und uns richtig zu erklären.
Diese Nachlässigkeit hat dazu geführt, dass sich heute große Probleme ergeben. Hätten wir uns, wie eine Handvoll Apostel, schnell in alle vier Ecken der Welt zerstreut und den Islam richtig vertreten, wären wir heute nicht auf eine solche Negativität gestoßen. Die Menschen würden anders über den Islam denken oder zumindest die Muslime besser erkennen und wahrnehmen.
Anmerkungen:
Isimsiz müsemma: unbenannter Bekannter
Mutlak vahdet: absolute Einigkeit
menhelü’l-azbü’l-mevrûd: Frischwasserquelle
Asli delil: primäre Bezugsquelle
Idjma: Konsensus
Qiyas: Analogieschluss
feri delil: Sekundäre Bezugsquelle
Örf: Gewohnheitsrecht
Adet: Tradition
Maslahat: Gemeinwohl
Istihsan: „Für-besser-Halten“