Der vollkommene Mensch
Von M. Fethullah Gülen
Ein vollkommener Mensch ist der hellste Spiegel der Namen Gottes, Seiner Werke und Attribute, ja aller Angelegenheiten, die Gott betreffen. Es heißt: „Absolute Erwähnung bedarf der vollkommenen Form.“1
Dazu fällt einem als Erstes die Wahrheit Muhammeds (Friede sei mit ihm) ein, dann die anderen Propheten, herausragende Persönlichkeiten, die als ghawth und quṭub bezeichnet werden, sowie – ihrem Rang entsprechend – die Gottesfreunde (ewliyāʾ), reinen Gelehrten (aṣfiyāʾ), treuen Gläubigen (ebrār) und Gottesnahen (muqarrebīn). Solche Unterschiede sind im Sinne des Korans und der Sunna durchaus zulässig und widersprechen auch nicht dem gesunden Menschenverstand und dem gesunden Wahrnehmungsvermögen.
Philosophen und Theologen beziehen sich auf den vollkommenen Menschen mit Begriffen wie Urverstand (ʿaql-i ewwel), universeller Verstand (ʿaql-i kull), umfassendes Wort (kelime-i cāmiʿa), umfassender Punkt (noqṭa-i cāmiʿa), Einheitspunkt (noqṭa-i waḥdet), göttliches Geheimnis (sirr-i ilāhī), Spiegel des göttlichen Geheimnisses (āyine-i sirr-i ilāhī) und größtes Mittel (wesīle-i ʿuẓmā). Im Sufismus sind Ausdrücke wie Anführer (pīschuwa), Wegweiser (hādī), Rechtleiter (mehdī), vollkommener Gelehrter (dānā-i kāmil), Vervollkommner (mukemmil), Herangereifter (bāligh), größtes Antidot (tiryak-i akbar) und größtes Elixier (iksīr-i aʿẓam) geläufig.
Ein glänzender Spiegel
Mit anderen Worten: Der vollkommene Mensch ist in den zwei Welten (dū kewn) der Spiegel Gottes. Als Essenz, Extrakt, Sprache und Übersetzer der Existenz ist er nicht nur Ausdruck des verborgenen Schatzes (kenz-i maḫfī). Er bringt auch alles mit Gott dem Wahren in Verbindung und intoniert Ihn mit der Weite seines Gewissens und der reichen Sprache seines Wesens.
Tatsächlich ist der vollkommene Mensch ein glänzender Spiegel, in dem sich – wer weiß, wie oft in der Minute – zahllose Potenziale Gottes widerspiegeln. Dank eines solchen „Erdlings“ überflügelt die Erde sogar die Himmel. Denn der vollkommene Mensch ist dem Verstand, dem Herzen und dem Geist alles Seins gleichwertig. Ohne ihn kann nichts richtig verstanden werden, ohne ihn kann aus der Wissenschaft kein Erkenntnisgewinn gezogen werden, kein Lebensgeheimnis vollständig erspürt werden. Ohne seinen Blick auf die Welt wäre die physische Welt seelenlos, allezeit in Finsternis. Menschen, die in einem solchen Nichts leben, leben in Bezug auf ihr Herz und ihren spirituellen Horizont wie in einer Ära der Leere (ehl- el-fetra) zwischen zwei Propheten – nicht, weil sie keine Anleitung hätten, sondern in dem Sinne, dass sie das Wesen ihrer Menschlichkeit nicht entwickeln können.
Nur vollkommene Menschen ermöglichten es den Menschen, sich ungehindert Gott zuzuwenden. Unter ihrer Führung fanden Massen von Menschen ihre ewigen Mihrabs und konnten dank des von ihnen ausgestrahlten Lichts das Sein und die Geschehnisse treffend interpretieren. Wer sie und damit die Wahrheit findet, wer in ihr Inneres Einblick erhalten hat, hat daher im Maß der Transparenz der Manifestation und seiner spirituellen Weite die Schönheit Gottes erblickt.
Der vollkommene Mensch ist ein beispielhafter Typus in Bezug auf Religion und Religiosität. Sein Weg und seine Laufbahn sind Glaube, Islam und Güte (Gott so zu dienen als ob man Ihn sähe…). Sein Ziel ist die Anerkennung Gottes, seine Pflicht, Gott den Wahren zu lieben und andere darin anzuleiten, Ihn zu lieben. Die Früchte dieses gesegneten Denkens und Handelns sind das Paradies und die Gunst Gottes, mit denen er nicht gerechnet hat, da er seine Dienerschaft nicht davon abhängig gemacht hat.
Der perfekte Mensch strebt immer danach, anderen nützlich zu sein, und sucht nach Wissen, das seinen Horizont erweitert. Da er nach hohen Moralmaßstäben lebt, stellt er die Schönheit schlechthin dar: Er sieht Schönes, denkt Schönes und sagt Schönes. Er tut Schönes, er folgt dem Schönen und den Schönen. Sein ganzes Trachten gilt dem Wohlgefallen Gottes. An Ihn denkt er. Über Ihn spricht er. An Ihn erinnert er mit allem, was er sagt und tut. Er lebt als die verständlichste Sprache der Wahrheit und des Wahren.
Der höchste Repräsentant
Der Stolzgrund der Menschheit, der vollkommenste aller vollkommenen Menschen, war der höchste Repräsentant dieser erhabenen Qualitäten. Um das göttliche Geheimnis im Wesen des Islams zu erkennen, genügte es, ihn ein einziges Mal zu sehen – unter der Bedingung, unvoreingenommen und gerecht zu sein. Wie Abdulkarim Djīlī (gest. 1424) sagte: Man kann in der Sphäre der Existenz auf keine zweite Person verweisen, die menschliche Vollkommenheit im Ausmaß des Propheten Muhammed (Friede sei mit ihm) erreicht hätte.
Der Zweck der Vollkommenheit ist die Reinigung des Geistes mittels der Offenbarung und der Inspiration Gottes, der niemals täuscht, die Läuterung des Nefs, die Entwicklung göttlicher Feinheiten im Menschenwesen; außerdem die Überwindung körperlicher Wünsche, um völlig mit Gott verbunden zu sein und die göttliche Ewigkeit zu erreichen und zu einem glänzenden Spiegel zu werden, der alle Seine Namen und Attribute widerspiegelt sowie alle Angelegenheiten, die Ihn betreffen. Der ehrwürdige Geist des Herrn der Schöpfung (die erhabensten Grüße und Gebete seien mit ihm) vereinte in sich das Wesen dieser überragenden Eigenschaften. Er kam in seiner Dienerschaft Gott so nahe wie „die Sehnen von zwei Bögen, oder sogar noch näher“2. Er ist der vollkommenste aller vollkommenen Menschen. Mit den Worten von Bediuzzaman ist er der Stolz des Menschengeschlechts und das Siegel des Diwans der Gesandtschaft. Er ist mit seiner Vollkommenheit einzigartig in Sein und Zeit. Er ist zu Recht der Stolz der Schöpfung.
In der Terminologie des Sufismus ist der vollkommene Mensch das Juwel, die Essenz, der Extrakt und das Inhaltsverzeichnis, das alle göttlichen und physischen, essenziellen und sekundären, partiellen und universellen, substanziellen und akzidentiellen, materiellen und spirituellen Sphären in sich vereint. Seyyid Scherīf el-Djurdjani (gest. 1413) beschreibt den Stolzgrund der Menschheit wie folgt: „Er ist ein äußerst wertvolles und geheimnisvolles Buch und eine Abhandlung voll göttlicher und existenzieller Wahrheiten, die niemand völlig verstehen kann, außer den Glücklichen, die von körperlichen Unreinheiten gereinigt sind.“
Sogar über den Engeln
Aus der oberflächlichen Sicht des Verstandes ist das Universum das Größte; in Wahrheit und in den Augen Gottes ist es der Mensch. In Anlehnung an den ehrwürdigen Ali steht der Mensch über den Engeln. Und mit den Worten Mehmet Akif Ersoys: „Welten sind in ihm verborgen, Welten sind in ihm eingehüllt.“ Der vollkommene Mensch ist der wesentliche Ausdruck aller Potenziale Gottes, ein kollektiver Spiegel Seiner Existenz. Innerlich der Brennpunkt der Namen, Attribute und Werke Gottes; äußerlich Wort für Wort, Zeile für Zeile, Absatz für Absatz, teils ausdrücklich, teils symbolisch und angedeutet eine vollständige Zusammenfassung, zumindest ein Index der Dinge und Geschehnisse. Da sich Gott der Erhabene in ihm sowohl allgemein als auch im Detail manifestiert, trägt er, wenn auch nur summarisch, von jedem Ding und jedem Gegenstand einen Strich, ein Wort, eine Zeile. In gewisser Weise wohnt seinem spiegelgleichen Körper jedes Wesen inne, und der allmächtige Gott ist in seinem Herzen verborgen.
Auf jeden Fall war einer der Gründe, warum den Engeln befohlen wurde, sich vor den ersten vollkommenen Menschen niederzuwerfen, diese äußerliche wie innere Ausrüstung und der Reichtum ihres Potenzials. Ein solcher Reichtum erforderte auch eine ernsthafte Hinwendung, also eine Religiosität, die die göttlichen Moralvorstellungen und Gesetze repräsentiert, die in Form der Religion systematisiert worden sind. Wenn Gottes Auge auf uns gerichtet ist – und natürlich ist es das – sollten unsere Augen auch immer auf Ihn gerichtet sein in dem Bemühen, die Religion mit Leben zu erfüllen.