Mudjāhede (Streben)
Das Streben nimmt in der religiösen Praxis des Islams eine zentrale Stelle ein. Darin kommt zum Ausdruck, dass der Mensch auf bestimmte Weise tätig werden muss, um sich Gott gefällig zu machen. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang der vielfach missverstandene Begriff des Djihad.
von Fethullah Gülen
Menschen, die ihrem Herzen folgen, sind der Auffassung, dass wir aufgrund der Tatsache, dass uns Willenskraft verliehen wurde, bestimmte besondere Pflichten haben. Diese Pflichten erfüllen wir durch Streben (mudjāhede), indem wir gegen unser sinnliches Selbst kämpfen und es zu kontrollieren versuchen und indem wir unseren sinnlichen Gelüsten nicht nachgeben, wenn diese mit den religiösen Geboten (und sei es auch nur mit den zweitrangigen unter ihnen, den mustahab – oder ādāb-Vorschriften) kollidieren; indem wir unsere Anbetung, unseren Gehorsam gegen Gott und unsere guten Taten stets für „nicht genug“ halten und indem wir unsere Ess-, Trink-, Schlaf – und Redegewohnheiten disziplinieren, um allen Geboten von Anbetung und Gehorsam nachkommen zu können.
Die „Gotterkannten“ (erbāb-i maʿrifet) haben stets zwei Kategorien von Streben unterschieden: das primäre größere Streben (djihad ekbar) und das sekundäre kleinere Streben (djihad asghar). Das größere Streben beinhaltet den Kampf gegen das eigene sinnliche Selbst und den Satan, das Bemühen um einen aufrichtigen Glauben, um Tugenden, eine gute Moral und die Fähigkeit, Gott angemessen anbeten zu können, sowie auch den Kampf gegen Laster, schlechte Gewohnheiten und Eigenarten. Das kleinere Streben verlangt, auf der Hut vor Feinden zu sein und sie, falls die Notwendigkeit besteht, auch zu bekämpfen. All jene, die sich mit ihrem Wissen und Denken in den Dienst ihrer Mitmenschen stellen, indem sie ihren Glauben, die Wahrheiten des Islams und die moralischen Grundsätze des Propheten Muhammed in sich aufnehmen und repräsentieren und erst dann an andere weitergeben, vereinen in ihrer Person beide Formen des Strebens und müssen also auch über die „Gabe“ verfügen, beiden gerecht zu werden.
Wann immer Themen wie Enthaltsamkeit, Verkündigung der Botschaften Gottes und das kleinere Streben (auch Streben mit dem Körper genannt) in der Literatur aufgegriffen werden, liefern die relevanten Koranverse einen unentbehrlichen Bezugsrahmen. Dies gilt auch für dieses Kapitel, in dessen Mittelpunkt das größere Streben steht. So heißt es in Vers 22:78: „Und setzt euch mit aller Kraft für Gottes Sache ein, auf eine Weise, wie es diesem Streben angemessen ist […].“
Größeres Streben oder größerer Djihad bedeutet in der Terminologie der Sufis, dass wir uns den niederen Trieben unseres sinnlichen Selbst, den Einflüsterungen des Satans und den exzessiven Begierden und Neigungen unseres Körpers entgegenstellen und demonstrieren, dass wir Wesen sind, die mit Willenskraft ausgestattet wurden. Wir sollten außerdem versuchen, Respekt vor jener göttlichen Feinheit (latīfe rabbāniye) zu bekunden, die sich aus unseren inneren Sinnen, Bewusstsein, Wahrnehmung und Herz zusammensetzt und die nur wir Menschen besitzen. In diesem Sinne gibt es für uns kein bedeutsameres Streben als den Djihad, und entsprechend ist ein Mensch, der Djihad betreibt, ein bedeutsamer Mensch, der die Wertschätzung Gottes genießt und mit der Nähe zu Gott beehrt wird. Gegen die Triebe und Gelüste des sinnlichen Selbst anzukämpfen und um ein von Gottesdienst und Gehorsam gegen Gott geprägtes Leben in Frömmigkeit, Aufrichtigkeit und Enthaltsamkeit zu ringen, dessen Ziel darin besteht, die Zustimmung und das Wohlgefallen Gottes zu erlangen, ist mit Sicherheit schwieriger, als den Feind an der Front im Geschoss– und Bombenhagel zu bekämpfen. Deshalb vertraute der Gesandte Gottes den Soldaten, die mit ihm aus dem Kampf zurückkehrten, einmal an: „Nun seid ihr vom kleineren Djihad zum größeren zurückgekehrt“,1 und vermittelte ihnen damit eine ganz entscheidende Lehre. Bei einer anderen Gelegenheit sagte er: Ein wahrer Kämpfer ist der, der um Gottes willen gegen sein eigenes sinnliches Selbst kämpft.2 So verdeutlichte er, dass der größere Djihad gegen den Satan und die Neigungen des sinnlichen Selbst auszufechten ist.
Während der kleinere Djihad in bestimmten Fällen notwendig oder verpflichtend sein kann, müssen gläubige Menschen dem größeren Djihad permanent nachkommen. Abgesehen davon gründet der kleinere Djihad auch auf dem Erfolg im größeren Djihad. Aus diesem Grunde sollte jeder von uns seine innere Welt reinigen und darauf achten, dass er sämtliche Handlungen – Sitzen, Stehen, Denken, Sprechen, Arbeiten etc. –in Harmonie verrichtet und stets um Gottes willen handelt. Nur wer in diesem Streben erfolgreich ist, wird auch vom Willen Gottes unterstützt werden, von dem es ja letztlich abhängt, ob unser menschliches Streben auf Seinem Weg fruchtbar und ergiebig ist oder nicht.
All jene, bei denen der Glaube noch nicht gefruchtet hat, denen es nicht gelungen ist, sich mit Hilfe der islamischen Prinzipien für das spirituelle Training zu disziplinieren, die nicht in die Tiefe vorgestoßen sind, in dem Bewusstsein, dass Gott sie jederzeit sieht, Gutes zu tun, und die nicht felsenfest in ihrer Aufrichtigkeit sind, können keine Menschen der Wahrheit sein. Sie sind nicht dazu in der Lage, ihre Rechte geltend zu machen oder in ihren sozialen Beziehungen klare Standpunkte zu vertreten. Menschen, die im Zyklus von Essen, Trinken und Schlafen gefangen sind, können weder ihre körperliche Seite kontrollieren noch ihren Geist erhabenen Idealen zuwenden oder ihr Bewusstsein für Gott öffnen, um mit Seiner Begleitung belohnt zu werden. Noch schwerer wiegt jedoch, dass sie sich nicht von Hass, Wut und anderen heimtückischen Gefühlen befreien können. So bleibt es ihnen verwehrt, die ganze Schöpfung allein um Gottes willen zu umarmen.
Eine vollkommene Gesellschaft kann nur dann entstehen, wenn ihre Individuen vollkommene Menschen sind, und individuelle Vollkommenheit setzt spirituelles Training voraus. Geistig und spirituell unzulängliche Menschen werden nie eine rechtschaffene Gesellschaft hervorbringen. Jeder Versuch in dieser Hinsicht ist von vorherein zum Scheitern verurteilt. Der größere Djihad dagegen läutert uns und bereitet uns darauf vor, die Gesellschaft zum Positiven zu verändern. Er beruht auf der Kontrolle der sinnlichen Gelüste und Triebe und auf einem aufmerksamen und unbeirrbaren Gewissen. Die spirituelle Vervollkommnungsreise ist der bekannteste sichere Weg, das Manöververmögen des Gewissens zu erweitern. Der Weise el-Būsīri3 beschreibt in den folgenden Versen, welche Gefahr von unserem sinnlichen Selbst ausgeht:
Wie viele tödliche Freuden gibt es, die das sinnliche Selbst der Menschheit als angenehm präsentiert.
Doch so gut wie niemand hat jemals erkannt,
dass die Butter mit Gift versetzt ist.
Beschließen möchte ich dieses Kapitel mit einem Gedicht von Hudayi 4, das auch als Brücke der spirituellen Vervollkommnung bezeichnet wird:
O du sinnliches Selbst!
Lass ab von deinen Fehlern und Irrtümern,
gib nach, und sei von nun an gerecht und fair!
Sage dich los von deinen ehrgeizigen Zielen,
gib nach, und sei von nun an gerecht und fair!
Warum all diese Gewohnheiten und Neuerungen?
Wozu dieses Lechzen nach Ruhm und Bewunderung?
Weshalb all die Schindereien dafür?
Gib nach, und sei von nun an gerecht und fair!
Der Tag wird kommen, an dem der Wind des Todes weht
und den Garten des Körpers verwüstet;
erfülle also aufrichtig deine Pflichten,
gib nach, und sei von nun an gerecht und fair!
Sei nicht so halsstarrig, o Hudayi,
unterwirf dich den Geboten Gottes!
Komm, und preise den Meister,
gib nach, und sei von nun an gerecht und fair!
O Gott! Wir bitten Dich um Vergebung, Gesundheit, Zustimmung und Gunst, um Deine Freundschaft und Nähe zu Dir. Dein Segen und Frieden sei auf unserem Meister Muhammed, dem Meister derer, die Dir nahe sein dürfen, den Du so liebst und zu Deinem Gesandten gemacht hast. Dein Segen und Frieden sei auch auf seiner Familie und seinen Gefährten, die von großer Sehnsucht erfüllt waren, mit Dir zusammenzutreffen!
Anmerkungen
Ḫatib al-Baghdadi, Tarikh al-Baghdad, 13:523.
Tirmidhi, faḍāʿil el-djihād 2. Musned 6/20
Muhammed ibn Saʿīd el-Būsīrī, Sūfī (1211–1294), ägyptischer Rechtsgelehrter, Mathematiker und Dichter berberischen Ursprungs, ist berühmt für sein Lobgedicht el-qasidat el-burʿa. In seiner Lyrik brachte er seine tief empfundene Liebe zum Gesandten Gottes und dessen Gefährten zum Ausdruck.
Aziz Mahmud Hudayi (Hudāʿī)(1541–1628), Sufi, Dichter, Islamgelehrter, Komponist. Er ist Nachkomme des Propheten und Gründer der Djelwetiye-Sufi-Ordens.