Von Krisen und Helden

Unsere Gesellschaft hat sich in einem Dickicht von Krisen verfangen. Überall auf der Welt gibt es Glaubenskrisen, Gedankenkrisen,Wertekrisen, Finanzkrisen, Moralkrisen, Beziehungskrisen, Führungskrisen und Regierungskrisen. Jede einzelne Krise von oben erwähnten Krisen könnte das Fundament der mächtigsten Staaten zum Wanken bringen. Während manche Krisen schnell überwunden werden können, sind andere so komplex, dass sie weitere Turbulenzen nach sich ziehen. Derartige Krisenstellenwohl die Hauptbedrohung für das Bestehen der menschlichen Gesellschaft dar. Führungspersönlichkeiten, Soziologen, Pädagogen und Theologen sollten sich zusammentun und über konkrete Wege aus der Krise beraten.

Wo liegen die Wurzeln dieser Krisen, die unsere Gesellschaft wie ein Albtraum plagen? Sie liegen im Werteverfall des Westens begründet, der nach der Renaissanceeinsetzte, als der Menschen in seiner Körperlichkeit ins Zentrum rückte. Man begann verächtlich auf die Geschichte zu blicken, wurde aus dem wissenschaftlichen Nest desMetaphysischen förmlich hinausgeworfen, das Materielle wurde vergöttert, es herrschte übertriebener Egoismus. Das Geistige wurde dem Körperlichen geopfert, das Herz dem Magen, die Idee der Demagogie. Das eigentliche Problem war jedoch nicht die Renaissance als solche, sondern der Missbrauch des Freiheitsgedankens, der mit ihr aufkam. Das führte schließlich dazu, dass seit ehedem egozentrische und ihres Horizonts beraubte Menschenmassen sich ausschließlich dem Materiellen, der Bequemlichkeit und der physischen Welt zugewandt und sich so von der Spiritualität, dem Metaphysischen und menschlichen Werten entfernt haben. Was natürlich gleichzeitig auch bedeutet, dass sich der Mensch von sich selbst entfremdet hat, und diese Abkehr ist die Ursache dieserAnhäufung von Problemen. Menschliche Gesellschaften winden sich vor Schmerzen, Familien befinden sich im Auflösungsprozess, demokratische „Volksparteien“ sind ratlos, reagieren panisch und Werte werden über Bord geworfen. Religiöse Überzeugungen, ethische Maßstäbe, Familien und die Jugend befinden sich im Epizentrum der schaurigsten Erschütterungen und sind in einem bemitleidenswerten Zustand. In den Augen vieler ist Hoffnung nur ein anderes Wort für Enttäuschung. Die Bemühungen derjenigen, die sich dieser Anhäufung von ungünstigen Umständen entgegenstellen, sind oft nur Show und nicht mehr als Beschreibung des Abscheulichen– Schwarzmalerei und ein Trüben der Hoffnung.

Es scheint, als würde niemand der Schlechtigkeit und Unreinheit Einhalt gebieten, die Gesellschaft windet sich vor Schmerzen,die Wunde hört nicht auf zu bluten. Und diejenigen, die die Aufgabe hätten, den Ausweg zu zeigen, sind rat- und sorglos.

„Die Herzen gnadenlos, die Gefühle schamlos, die Ziele wertlos.

Ihre Gesichtszüge den Dienern Gottes gegenüber respektlos.“

(Mehmet Akif)

Statt darauf zu warten, dass sich erfahrene Hände der Sorgen der Gesellschaft annehmen und Heilung bieten, versucht man Sorgen, Nöte und Probleme für das eigene Vorwärtskommen zu instrumentalisieren und aus ihnen Kapital zu schlagen; sie sind ein willkommener Anlass, um andere anzuschwärzen und unliebsame Regierungen loszuwerden bzw. man missbraucht gesellschaftliche Missstände, um auf dem Rücken der Leidenden Politik zu machen. Natürlich gibt es neben alledem auch eine Reihe erfreulicher Bemühungen. Leider beschränken sich diese auf eine Handvoll Intellektueller, die jedoch an der wirren Front aufgerieben werden und auf einige wenige Menschen, deren Reaktionen eher passiver Natur sind. Dem steht eine überwältigende Mehrheit gegenüber, die entweder alles vom Staat erwartet oder sich dem Wunschdenken hingibt, dieses Durcheinander werde auf großartige Weise durch eine gnädige Hand schon irgendwie in Ordnung gebracht.

Es geht aber nicht nur um den Staat und die Regierungen. Auch den Freiwilligenorganisationen und sogar jedem Individuum fallen eine Menge Verantwortlichkeiten zu. Hierzu gehört beispielweise die Unwissenheit zu bekämpfen, diverse Missstände mittels Bildung zu überwinden und mithilfe moderner Wissenschaft neuen Ideen den Weg zu leuchten. Zudem betrifft es insbesondere existentielle Bereiche wie die Vermittlung und Repräsentation religiöser Wahrheiten in ihrer Originalität, die den Menschen eine Beziehung zu Gott ermöglichen. Die Lage in der Türkei und anderswo auf der Welt bedeutet uns, dass solche spirituellen Aufbruchsbewegungen so schnell wie möglich gestartet werden sollten.

Wenn die Elite der Gesellschaft, Intellektuelle und Wissenschaftler sowie finanzkräftige Unternehmer ihre Kräfte und Möglichkeiten bündeln, wird eine solch vielversprechende Bewegung gute Ergebnisse zeitigen. Eine solch prominente Bewegung, die ausschließlich religiösen, gesellschaftlichen und ethischen Werten verschrieben ist, wird ihr Ziel erreichen und die Gesellschaft aus dem Wirrwarr von Krisen befreien – wenn nicht heute, dann gewiss morgen.

Für unsere Intellektuellen bleibt die Aufgabe,alle Mittel, sei esdie Bildung oder die Medien, zu nutzen, um den Körper der Gesellschaft mit dem Nährwasser des gesellschaftlichen Geistes und des Bewusstseins der Geschichte zu impfen. Es reicht, wenn die Architekten des Geistes, die unsere Zukunft neu errichten, unsere Welt, die in Materie und Maschinen gefangen ist, ein wenig zu geistigem Leben, zu Metaphysischem und spirituellen Werten hinführten. Denn das eigentliche Leid besteht im Hunger nach diesen Dingen, und bis dieser Hunger nicht gestillt ist, wird auch das Leid nicht beseitigt werden können. Wird der Hunger des Menschen daher nicht durch die Wahrheiten der Vergangenheit und die Wahrheiten, die aus seiner eigenen Natur entspringen, gestillt, wird man weiter suchen und nicht finden. Man wird an den aussichtslosesten Orten nach Lösungen suchen und sich Märchen und abergläubigen Vorstellungen zuwenden – was die Krisen nur noch verschärfen wird.

Daher sollten wir als Gesellschaft unbedingt darauf achten, dem übertriebenen Materialismus, der Vorherrschaft einer materiellen Gesinnung über die Menschen, der Abnutzung der Wahrheiten der Religion und der Zerstörung kultureller Traditionen keine Chance zu geben. Zwar ist eine klare und entschlossene Haltung nötig, aber gleichzeitig solltenmenschliche Beziehungen weiter lebendig gehalten werden. Wir sollten zunächst einmal in uns selbst den Geist der Toleranz wiederbeleben, um ihn auch gegenüber der ganzen Welt zupraktizieren und zum gemeinsamen Dialog aufzurufen. Andersartigkeit muss mit Toleranz begegnet, jeder Ansicht muss Respekt entgegengebracht und der Bildung muss mehr denn je Bedeutung beigemessen werden. Hierbei sollte man keine Anstrengungen scheuen. Des Weiteren sollte man die Quellen unserer geistigen Systeme erneut untersuchen und sie im Hinblick auf die Zeit in der wir leben, den Verstand, Erfahrungswerte und das Spektrum der Offenbarung hin neu interpretieren: Wir müssen eine neue Gesellschaft formen, die Fortschritt gegenüber offen ist, der Wissenschaft vertraut und dem Gewissen Respekt entgegenbringt.

Natürlich bedarf es einer Reihe von Helden, um solch eine existenzielle Aufgabe zu bewältigen – Helden mit Niveau, die für ihre Sache keine Mühen scheuen und sich selbst nicht zu schade sind. Jede Veränderung und jede Transformation ist wie der Übergang von einer Sphäre in eine andere undgleicht dem Überspringen eines gewaltigen Abgrundes und ist daher nicht gefahrenlos in einem Zug zu vollziehen. Im Gegenteil: Selbst alltägliche Dinge bergen Risiken in sich. Und außerdem sind wir nicht auf diese Welt gekommen, um nach unserem eigenen Glück zu streben; sollten wir solch eine Neigung noch in uns tragen, ist es Zeit, sich davon freizumachen. Um zum Glück der Menschen in unserem Umfeld und insbesondere der jungen Generation beizutragen, sollten wir der ichbezogenen Lebenslust Lebewohl sagen, um die Spannung der Leidenschaft des vivere pro aliis (Leben, sodass die andere belebt werden können) zu erleben. Das ist das erhabenste Ziel unseres Zusammentreffens auf dieser Erde. Alle die Werte, Schätze und alles Sakrale, das wir heute haben, sind wir den Helden schuldig, die als Repräsentanten der Güte Gottes vor uns unter Gefahren und Einsatz ihres Lebensfür uns eine solche Welt errichtet haben. Und natürlich sind wir verpflichtet, diese Werte, die uns frühereGenerationen übertragen haben, an die kommenden weiterzugeben – auchwenn es unter Einsatz unseres Lebens sein sollte. Wir wollen Menschen sein, die sich anvertrautem Gut gegenüber als vertrauenswürdig erweisen.

Bis zum heutigen Tag war jede Zivilisation das Werk von ein paar Dutzend Helden und das wird auch in Zukunft so sein. Dank dieser Helden wird auch unsere von verschiedenen Stürmen und jeder Art von Krankheit geplagte Welt einer Zeit entgegengehen, in der wie früher die Tage in rosarotem Licht erscheinen und die Nächte sich im Mondschein spiegeln; einer Zukunft, die dampfend vor Liebe überschäumt und in der Auferstehung auf Auferstehung folgt.

error

Gefällt Ihnen der Artikel? Dann abonnieren Sie die Fontäne als Print-Ausgabe.

0

Dein Warenkorb