Religion und Wissenschaft als eines
Der Soziologe Max Weber sprach einst von einer „Entzauberung der Welt“, der Philosoph Georg Lukác von „transzendentaler Obdachlosigkeit“ als der Signatur des von den Wissenschaften geprägten modernen Lebens. Sind Wissenschaft und Religion tatsächlich Widersacher? Eine persönliche Annäherung von Lawrence Brazier.
Vor einigen Jahren machte ich in der Universität Cambridge die Bekanntschaft eines amerikanischen Gastprofessors und seiner Frau. Die Frau des Professors interviewte Stephen Hawking, um ein Buch über ihn zu schreiben. In einem unserer Gespräche erwähnte sie einen interessanten Aspekt des gesellschaftlichen Lebens in Cambridge.
„An einigen Abenden besuchten wir Fakultätsfeiern“, erzählte sie. „Es war aufregend, wir verbrachten die Zeit mit der intellektuellen Elite der Welt. Dort waren Wissenschaftler aller Disziplinen, Mathematiker und Physiker, einige mit Weltruhm. Nach ungefähr 15 Minuten allgemeinem Geplauder fingen alle an, über Gott zu reden.“
„Möglicherweise hatten sie das Gefühl, dass ihnen nichts mehr zu tun blieb, dass sie nirgendwohin gehen konnten“, versuchte ich mich an einer Erklärung.
„Vielleicht“, sagte sie. „Schließlich wissen sie mehr als alle anderen um die unbeantworteten Fragen. Ich vermute, dass das Unerklärte für einen Intellektuellen, besonders für einen Wissenschaftler, unwiderstehlich ist.“
„Das Reich der Metaphysik …“, soufflierte ich.
„Ganz richtig. Es ist, als ob ihr eigentliches Forschungsgebiet sekundär geworden wäre. Sie scheinen jetzt alle hinter dem her zu sein, was alles oder zumindest irgendetwas möglich macht.“
„Sie meinen, was einem Wissenschaftler ermöglicht, Wissenschaft zu treiben.“
„Ja, das bringt es auf den Punkt. Das Was oder Wer, das ermöglicht.“
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Wissen, Wahrheit und Glaube sind Dinge, die uns persönlich eignen,wenigstens bis wir mit der Fähigkeit gesegnet sind, jenes biblische „sanfte, leise Säuseln“ zu hören oder, wie der Islam es nennt, das „Flüstern der Seele“. Man ist dann befreit vomGetriebe der Welt. Glaube, scheint mir, ist folglich ein natürliches Ergebnis.
Nichtsdestotrotz verlangt Glaube – oder der religiöse Glaube, wenn man will – Kultivierung und Festhalten an der Welt, die einem geschenkt wurde, oder den Wunsch, daran festzuhalten. Auch Wissenschaftler, die ihre innere Welt verleugnen, sind offenbar dem Wissen, der Wahrheit und dem Glauben unterworfen. Und zwar deshalb, weil wir an die gemeinsamen Nenner der Menschheit gebunden sind, so hoch unsere Ziele auch sein mögen. Das Bedürfnis zu essen, zu trinken, zu schlafen und sich gegen die Widrigkeiten der Natur zu schützen – dies sind die nivellierenden Faktoren, könnte man vermuten, mögen unsere Gedanken auch noch so erhaben sein.
Der Trick ist, möchte es scheinen, in der Welt, aber kein Teil von ihr zu sein. In gewissem Sinn sind die rigorosen Unternehmungen unserer Wissenschaftler ein Schritt in die richtige Richtung. Sie wollen Tatsachen und nichts mehr. Und dennoch scheint es eine Schande, Gottes Anteil an ihren Unternehmungen zu leugnen, weil das, was sie wirklich suchen – und das wurde auf den Partys in Cambridge deutlich – Gott selbst ist. Ich behaupte, dass Er eine treibende Kraft ist.
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Glaube muss bei den meisten von uns Hand in Hand mit Erfahrung gehen. Wir fühlen, dass es zwecklos und unwissenschaftlich ist, an etwas Nebulöses zu glauben, an etwas, was nur ein Wort ist. Dennoch ist es falsch, den Mystizismus als eine vage, nichtwissenschaftliche, überweltliche Spielerei anzusehen, als etwas für Träumer und Nichtstuer. Es gibt Wege – einige nennen sie Pfade –, die einen in die kontemplative Nähe eines mystischen Erlebnisses bringen können. Der Anstoß des eigenen Bemühens könnte allerdings ein Hindernis sein. Trotzdem mag jeder, der während des Ramadans gefastet hat oder zu einem kontemplativen Leben geführt wurde, den Segen und die Gnade wahrer Unterwerfung erfahren. Das Schlüsselwort ist Demut. Der Grund, weshalb die Propheten, die meiner Ansicht nach zu ihrer Zeitalle Mystiker waren, verfolgt wurden, war, dass sie, nachdem sie göttlicheBestätigungerhalten hatten, „die Dinge beim Namen nannten“, um es mit einer modernen Wendung zu sagen.