Aufrichtigkeit: Der Geist hinter allem wirken
Frage: In einem Hadith verfügt der Prophet – möge Friede mit ihm sein – Folgendes: „Habt bei euren Handlungen stets das Wohlgefallen Gottes im Blick. Er nimmt nur solche Werke an, die für Ihn getan werden.“[1] Wie kann man das nötige Bewusstsein und die nötige Sensibilität entwickeln, um beim Erfüllen der religiösen Pflichten stets das Wohlgefallen Gottes im Blick zu haben?
Antwort: Ein wahrer Gläubiger, der Gott dem Erhabenen von Herzen ergeben ist, muss in seiner ganzen Haltung und in all seinem Tun das Wohlgefallen Gottes im Auge haben. Nicht für einen Moment darf er an sich denken. Er darf sich anderen gegenüber nicht seiner vielfältigen Taten rühmen und sollte die Erinnerung daran sogar aus seinem Gedächtnis tilgen. Insbesondere wenn der Gläubige zu Gott und zur Wahrheit aufruft, sollte er niemals sich selbst zur Schau stellen; stattdessen sollte alles, was er sagt, einem aufrichtigem Herzen entspringen. Und ist er am Ende erfolgreich, sollte er rein gar nichts für sich selbst beanspruchen.
Worte sind leblos, ohne das Visum des Herzens
Natürlich schafft man es nicht von heute auf morgen, ein solches Bewusstsein zu entwickeln. Es ist nötig, im Laufe der Zeit an einen Punkt zu kommen, an dem man sich selbst nicht mehr sieht; dies bedarf ständiger Übung und Hinterfragung der eigenen Existenz. Sonst werden die gut gemeinten Taten nur in sehr begrenztem Rahmen Wirkung entfalten beziehungsweise gar keine Früchte tragen. Auch wenn vorübergehend etwas in Gang gesetzt werden mag, verheißt dies keinen dauerhaften Bestand für die geleisteten Dienste.
In den Moscheen wird heute eine Menge getan: Der Koran wird rezitiert, der Ruf des Muezzins erschallt in aller Pracht und die Gemeinde wird dazu aufgerufen, in Aufrichtigkeit die religiösen Pflichten zu erfüllen – zu Zeiten des Gesandten Gottes wurde vermutlich nicht einmal ein zehntel von diesen gemacht. Die ganze Erde erzittert ja förmlich unter dem Ruf des Muezzins, von der Kanzel und im Fernsehen werden ununterbrochen Reden gehalten, es wird gepredigt und Rat gegeben. All dies berührt jedoch die Herzen nicht, es geht den Menschen nicht nahe und führt sie nicht zu Gott, wie zur Zeiten der Glückseligkeit. Der Grund? Im Gegensatz zu den Aussagen des Propheten finden heute die gesprochenen Worte keinen Eingang zum Herzen, sie haben sozusagen kein Visum. Wer „Allâhu Ekbar“ – Groß ist allein Gott – ruft und im gleichen Atemzug mit seiner eigenen Größe prallt und mit bestimmten Ausrufen und einer schönen Stimme Selbstdarstellung betreibt, sagt verhohlen die Unwahrheit, wenn er sich zu Gott und dem Propheten – möge Friede mit ihm sein – äußert und zeigt, wie gut er sie zu erklären vermag.
Tiefer Glaube
So etwas wäre für Menschen, die sich von Herzen für den Dienst am Glauben und Koran einsetzen, verhängnisvoll. Wer sich bis jetzt nur am Rande mit dem Thema beschäftigt hat und sein Zelt immer noch nicht im Zentrum der Sache aufgeschlagen hat, sollte sich schnellstens dem Inneren zuwenden, im Glauben an Tiefe gewinnen und so den verlorengegangenen ursprünglichen Zustand wiederherstellen. Die ethischen Prinzipien der Gefährten erfordern dies. Wenn sie sich trafen, sagten sie: „Kommt und lasst uns eine Stunde zusammen an Gott glauben.“[2] Mit anderen Worten: „Unser Glaube hatte bis heute eine Bedeutung für uns. Ob er auch Morgen etwas bedeutet, wissen wir nicht. Lasst uns ihn daher erneut prüfen.“ Beachten wir, dass die Gefährten nicht sagten: „Lasst uns erneut glauben.“ Sie sagten stattdessen: „Lasst uns eine Stunde zusammen an Gott glauben.“ Dies entspricht dem Rat, den der Prophet – möge Friede mit ihm sein – Ebû Dherr el-Ghifârî – möge Gott an ihm Gefallen finden – gab: „Prüfe ein weiteres Mal dein Schiff und erneuere es, denn das Meer ist sehr tief.“[3] Wir stechen jeden Tag aufs Neue in See.
Wer sich auf die Reise begibt, geht ja auch auf Nummer sicher und kontrolliert sein Fahrzeug, den Motor und die Reifen. Ebenso müssten auch unsere Verantwortung vor Gott und unsere Haltung zu unseren Aufgaben „repariert“ werden, wenn sich Mängel auftun. Wir müssen mit frischer Konzentration unseren Glauben erneuern, denn wer sich unvorbereitet auf das Meer des Lebens hinausbegibt, läuft ständig Gefahr, in der Tiefe dieser Gewässer unterzugehen. Ohnehin liegt ein sehr weiter Weg vor uns, der beim Barzakh (Zwischenwelt)[4] beginnt und in Himmel oder Hölle endet. Wer sich daher auf einen Weg begibt, den er nicht kennt, sollte sehr gut vorbereitet sein.
Der Prophet – möge Friede mit ihm sein – wies unmittelbar nach seinen eben zitierten Worten auf die Länge der Reise hin: „Hast du genug Proviant? Die Reise wird fürwahr sehr lang.“ Der Proviant, den wir zusammenstellen, muss uns über die Sirat-Brücke[5] führen und so großzügig bemessen sein, dass er uns ermöglicht, auch bis ins Paradies zu gelangen. Die Sirat-Brücke ist keine Brücke, wie wir sie kennen. Sie wird nicht mit einem Schritt, in einem Atemzug, zu überqueren sein. Schauen wir uns die Aussagen in den Hadithen zu diesem Thema an, sehen wir, dass dieser Weg vielleicht so lange wie unser ganzes irdisches Leben sein wird. Der Eingang ins Paradies hängt jedoch davon ab, diese Brücke zu überqueren.
Man muss nicht nur um ausreichend Proviant besorgt sein, sondern muss auch darauf achten, unnötigen Ballast wie Fehler und Sünden jeder Art zu vermeiden. Der Prophet – möge Friede mit ihm sein – drückt dies wie folgt aus: „Achte darauf, dass die Last der Welt auf deinem Rücken nicht zu schwer wird, denn der Aufstieg, der dir bevorsteht, ist gewiss sehr steil.“ Mit anderen Worten: Wir müssen darauf achten, nicht mit vielen offenen Rechnungen ins Grab und den Barzakh zu gehen sowie vor das Jüngste Gericht zu treten. Auch sollten wir uns nicht in den Haken der Last auf unserem Rücken verheddern.
Zuletzt riet der Gesandte Gottes – möge Friede mit ihm sein – dem ehrwürdigen Ebû Dherr Folgendes: „Sei in all deinem Wirken darauf bedacht, aufrichtig zu sein, und denke ausschließlich an Ihn. Schließlich ist es dein Herr, der alles sieht, alles beobachtet, gerecht urteilt und von deinen Taten Kenntnis hat.“ Um es mit den Worten des ehrwürdigen Pîr (Lehrmeister) zu sagen: „Wirkt für Gott, trefft euch für Gott, arbeitet für Gott. Handelt für Gott und sein Wohlgefallen (lillâh, liwedschhillâh, liedschlillâh).“[6] Mit anderen Worten: Er ist es, der eure Taten kritisch begutachtet, bewertet und sie als Wert verbucht, Er, der euch immerfort sieht. Keine eurer Handlungen ist vor Ihm verborgen, Er ist der Wächter über alles von euch.
Ständige Selbstprüfung
Auf eben diese Art und Weise muss man sich mit dem Leben im Diesseits befassen. Irrtum, Unachtsamkeit, Vergesslichkeit und Gleichgültigkeit wären unerträglich. Einer der Gottesfreunde, Eswed ibn Yezîd en-Nechâî drückte dies wie folgt aus: „Ihr könnt es euch gar nicht vorstellen; es ist eine sehr, sehr ernste Angelegenheit!“[7] Mit anderen Worten: Das ist nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen, was man auf sich zukommen lassen oder was einfach auf gut Glück angegangen werden könnte. Es geht darum, vor ewiger Pein bewahrt zu werden – oder nicht. Daher ist es notwendig, sich unablässig selbst zu überprüfen und seine Gebete, sein Fasten und alle anderen Rituale der Anbetung bewusst zu hinterfragen.
Spricht man über irgendein Thema, reicht es nicht, lediglich zu sagen: „Möge Gott der Wahre mir die rechten Worte in den Mund legen, mich recht ausdrücken lassen, meinen Worten Wirkung verleihen und sie in den Herzen auf Widerhall treffen lassen!“ Es geht auch darum, Egoismus zu vermeiden und die Sache in Aufrichtigkeit zu tun. Daher sollte man nie vergessen zu sagen: „Mein Gott, lass alle meine Worte Dein Wohlgefallen finden.“ Der Koran lehrt dies in ähnlicher Weise, wenn der ehrwürdige Moses zu Gott fleht: „Er sprach:
Herr, mach mir meine Brust weit,
Und mein Anliegen leicht,
Und löse mir den Knoten meiner Zunge,
Daß sie verstehen meine Rede.“[8]
Dieses Gebet sollte stets auf unserer Zunge sein, während wir es nicht versäumen, auch „Mein Herr, mit Deinem Wohlgefallen“ zu sagen.
Herausragende Repräsentanten der Aufrichtigkeit
Jeder sollte des Weiteren den Mut besitzen, zu sagen: „Vertiefe und kröne meine Worte und Taten mit deinem Wohlgefallen! Verleihe ihnen in Deiner Güte, in deiner Gunst, in Deiner Gnade, in Deiner ehrenvollen Annahme unendliche Tiefe! Denn ich bin vergänglich und alles wird ein Ende finden, während ich meinem Platz im Jenseits entgegengehe. Wenn Du nicht in den Dingen bist, die ich während des Tages tue, wäre nichts von Bedeutung und Wert!“
Nureddin Topçu bezeichnete einst Menschen, die sich durch das Vortragen von Gedichten zur Geburt des Propheten, (mewlid), Lobpreisungen des Propheten (naʿat) oder inbrünstigen Gebeten (munâdschaât) selbst in den Vordergrund rückten, als „Meister der Kehle“. Er betonte immer wieder die Wichtigkeit der Aufrichtigkeit und der Wahrhaftigkeit. Auch die Haltung des ehrwürdigen Pîr zu diesem Thema ist bemerkenswert. Alles, was nicht aus Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit heraus geschah, fand bei ihm keine Anerkennung; was nicht aus dem Herzen entsprang, wurde von ihm offen missbilligt. Heutzutage bräuchten wir ein paar Dutzend solcher Koryphäen der Aufrichtigkeit, denn sie würden das Aussehen der Welt verändern. Bis heute haben diejenigen, die ihren Dienst im Hinblick auf das Diesseits gegen Lohn, Anerkennung oder Ehre verrichten, abgesehen von kurzlebigen Effekten, nichts von Bestand hervorgebracht. Das wird sich auch in Zukunft nicht ändern.
Die Umayyaden, Abbasiden, Choresm-Schahs, Ayyubiden, Seldschuken und Osmanen, die nach dem Propheten – dem Vorbild für die ganze Menschheit – sowie den vier rechtgeleiteten Kalifen kamen, haben dem Islam vielfältige Dienste geleistet. Sie dienten während bestimmter Epochen als Repräsentanten der Blütezeit, um schließlich jeder einzelne für sich als schöne Erinnerung (yâd-ı cemil) dem Horizont des Jenseits entgegenzufliegen. Allerdings reichten ihre Ergebnisse zu keiner Zeit an den Erfolg der vier rechtgeleiteten Kalifen heran. Der Grund hierfür liegt in der unermesslichen Tiefe und Reinheit der Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit der rechtgeleiteten Kalifen. Wir brauchen daher auch heute Menschen, die den wahren Islam in Aufrichtigkeit leben, ihn wahrhaftig repräsentierend ausleben und nicht abhängig sind von Äußerlichkeiten, Populismus, Anerkennung, Applaus und prätentiösen Behauptungen.
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[1] Siehe: Dârakutnî, Sunen 1/51; Beyhakî, Schuabu’l-Îmân 5/33.
[2] Ahmed ibn Hanbel, Musned 3/265; Ibn Hadscher, Isâbe 4/83.
[3] Deylemî, Musned 5/339.
[4] Die Grenze, die sich zwischen den Toten und der kommenden Welt auftut, die Zwischenwelt des Grabes zwischen dieser und der kommenden Welt.
[5] Eine Brücke im Jenseits, die überquert werden muss, um ins Paradies zu gelangen.
[6] Bediüzzaman Said Nursi, Lem’alar (Bitze) S. 21, dritter Blitz, dritte Rede.
[7] Ebû Nuaym, Hilyetu’l-Ewliyâ 2/104.
[8] Sure Tâ-Hâ, 20:25-28.