Sind wir vor Rassismus gefeit?
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In seinem zweiten Diskurs zur Gesellschaftskritik verkündet der französische Schriftsteller, Philosoph, Pädagoge, Naturforscher und Komponist Jean J. Rousseau (1712-1778), dass wir „durch den Anschein des Wirklichen getäuscht werden. Von Klatsch bis zur Schminke, von Streitschrift bis zu Tischgesprächen, von all dem wir denken, dass sie uns unterhalten und fördern, werden wir eigentlich gelangweilt, belogen und von der Wirklichkeit abgelenkt.“
Zwar war auch Rousseau zu seiner Zeit mit Leid, Hungersnöten und Krieg konfrontiert und durchschaute sehr wohl, dass die Menschen durch viele Faktoren von der Wirklichkeit bzw. von den Gründen des Leidens abgelenkt werden. Doch muss hervorgehoben werden, dass er das ‚industrialisierte‘ Morden des Holocaust nicht kannte. Seit Rousseau haben sich die gesellschaftlichen Bedingungen enorm verändert. Im Zeitalter der Industrialisierung stellte sich heraus, dass die industrialisierte Kriegsführung mehr Menschenleben kostete als alle Kriege zusammen, die zuvor in der Menschheitsgeschichte geführt worden waren. Nicht nur die Mobilität und der Informationsaustausch hatten sich beschleunigt, auch das Töten wurde so einfach wie nie. Was sich im Zuge dieser enormen Veränderung aber nicht verändert hatte, war die menschliche Natur und die Beziehung und Abhängigkeit des Menschen zu bzw. von der Gesellschaft.
In der Fortsetzung seiner Kulturkritik – verstehen wir sie auch als Zivilisationskritik – betont Rousseau, dass der Mensch ein Sklave der modernen Gesellschaft sei, wenn auch ein glücklicher Sklave. Er sei frei geboren, dennoch liege er überall in Ketten. Die zivilisierte Gesellschaft bringe den Menschen durch Wissenschaften, Schrifttum und Kunst in Abhängigkeit und hindere ihn gleichzeitig daran, diesen Selbstbetrug bzw. diese Wahrheit zu realisieren. Anschließend zielt seine Kritik auf die Eigendynamik von Wissenschaft und Zerstreuung, die den Menschen in dem Glauben lassen, er sei glücklich und zufrieden, obwohl sie ihn in Wirklichkeit determinieren, sein Verhalten und seine Bedürfnisse bestimmen.
Ferner geht Rousseau auf Ungleichheiten ein, die erst durch die Vergesellschaftung des Menschen entstehen. Er führt weiter aus, dass das Mitleid eine ganz natürliche Tugend des Menschen sei, die jedoch zunehmend den Idealen der Gesellschaft weichen müsse. Die Gesellschaftsbildung führe zur Entstehung neuer Bedürfnisse wie Macht und Ansehen. „Der Wilde“, schreibt Rousseau, „lebt in sich selbst“, während der zivilisierte Mensch in der Vorstellung anderer lebe. „Da wir immer die anderen darüber befragen, was wir sind, und niemals wagen, uns selbst darüber auszuhören, haben wir inmitten von so viel Philosophie, Humanität, Höflichkeit und erhabenen Grundsätzen nur eine trügerische und leichtfertige Außenseite.“
Diesem Abhängigkeitsverhältnis ist auch das fehlende Schuldbewusstsein jener Bürger oder Täter des Nationalsozialismus zuzuordnen, die sich das Recht anmaßten, Menschen aufgrund unveränderlicher Merkmale wie Rasse oder Religionszugehörigkeit für minderwertig zu halten. Ihre verzerrte Wahrnehmung entsprang einer auf biologisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhenden Ideologie mit dem Pseudo-Anspruch der Wissenschaftlichkeit. Diese verhinderte, dass Opfer als Menschen wahrgenommen wurden; denn der Ideologie nach waren sie Untermenschen. Die jahrelange Propaganda vom Untermenschentum trug eindeutig dazu bei, die Hemmschwelle vom Hassen zum Töten zu überwinden. Die Monographie Täter, in der sich Harald Welzer akribisch mit der Frage auseinandersetzt, wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, ist (…)
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