Bescheidenheit und Aufrichtigkeit

von Hikmet Işık

Bescheidenheit ist ein Gefühl, ein Zustand im Herzen des Menschen. Es bedeutet, sich selbst als klein zu betrachten, und ist in den Augen Gottes etwas sehr Wertvolles. Eine Person, die diese erhabene Eigenschaft besitzt, wird bescheiden (mütevazi) genannt. 

Diese Charaktereigenschaft wird manchmal am Verhalten einer Person erkenntlich. Jedoch kann man anhand dessen nicht immer beurteilen, ob eine Person wirklich bescheiden ist oder nicht. Beispielsweise stehen manche beim Hauptgebet in der ersten Reihe, um ihre Bescheidenheit zu zeigen, und manche stehen in der letzten Reihe. Es kommt jedoch darauf an, mit welchen Überlegungen dies geschieht. Der entscheidende Punkt ist hier, dass man sich ständig innerlich überprüfen und sich immer seiner Gefühle bewusst sein muss und sein Leben dementsprechend führen muss. Ein bescheidener Mensch vermeidet ein Verhalten, das zu Situationen führen könnte, in denen andere ihn ehren würden. Ganz im Gegenteil ist es einer bescheidenen Person unangenehm, wenn sie  als Gegenleistung für ihre Taten hoch geehrt wird.

Tatsächlich wird in den Hadithen des Propheten (Friede sei mit Ihm) erwähnt, dass das frühe Erscheinen in der Moschee und das Stehen hinter dem Imam vorzüglicher ist. Und das ist auch das, was objektiv ist. Was wir hierbei bezwecken, ist, die Aspekte der Bescheidenheit und Hochmut nahezubringen. Deshalb sind es subjektive Meinungen. Aber ein Mensch kann auch aufgrund seiner aufrichtigen Überlegungen (von Gott) belohnt werden. Eine Person, die beispielsweise zwar früh zur Moschee kam, aber mit der Überlegung, dass ein anderer die Belohnung der ersten Reihe bekommt, sich dann in den letzten Reihen hinstellt, hat zweifellos eine gute Tat vollbracht, die vor Gott von großer Bedeutung ist. Es ist aber wichtig, dass die Person eine solche Tat nicht immer machen soll. Es kann mit der Zeit nämlich dazu führen, sich selbst immer in den Vordergrund zu stellen.

Ein Gläubiger, was auch immer seine Taten sein mögen, sollte wissen, dass er sich aus dem Zustand befreien muss, sobald er auf den Gedanken verfällt, sich selbst in den Vordergrund zu stellen. Er sollte entschlossen sein, sein Leben in einer außergewöhnlichen Bescheidenheit, Nichtigkeit (Mahviyet) und Schamgefühl (Hacalet) zu verbringen. Diese sollte aber nicht nur in Gestalt ersichtlich sein. Denn eine Haltung der Bescheidenheit, die an eine bestimmte Gestalt und ein bestimmtes Verhaltensmuster gebunden ist, kann einen in einem Komplex der sich Vorführung führen, ohne dass man sich dessen bewusst ist. In dieser Hinsicht sollte man flexibel sein und je nach Stimmung entscheiden. Unbedachte Verhaltensweisen haben an sich keinen Wert. Es sind die Absichten, die ihnen den Wert verleihen.

Urteile des Gewissens

Das beste Urteil über sich selbst kann nur der Mensch allein mit seinem Gewissen treffen. Das Gewissen ist nämlich wie ein unfehlbarer Maßstab und Prüfstein. Deshalb sollte der Mensch bei all seinen Verhaltensweisen und Entscheidungen sich nach diesem Maßstab richten und danach handeln.

Um es nochmal mit dem Beispiel des Hauptgebets zu erläutern: Es gibt jemanden, dessen Gewissen zu ihm „Ich verdiene es nicht, im Hauptgebet in der ersten Reihe zu stehen“ sagt und der sich nach seinem Gewissen bescheiden verhält, sodass er sich mit diesen Gedanken in die letzte Reihe stellt. Dies ist eigentlich die Erscheinung seiner Bescheidenheit, die ihm diese Verhaltensweise ausführen lässt.

Ein anderer aber, der sich auch in die letzte Reihe stellt, hat jedoch eine ganz andere Erwartung. Er erhofft sich nämlich, dass andere über ihn Folgendes sagen: „Was für ein bescheidener Mensch. Obwohl er sehr früh zur Moschee kam, stellt er sich nach hinten. Was für eine bescheidene Haltung!“ Auch wenn er diese Meinung nicht zum Ausdruck bringt, kann sich dieser gefährliche und heimtückische Gedanke in seinem Charakter verankern. Dieser Mensch würde seine Handlungen gegenüber Gott verderben, indem er sie nur deshalb vollbringt, um bei anderen Menschen gut anzukommen, anstatt aus wahrhaftiger Überzeugung und Aufrichtigkeit heraus zu handeln.

Es ist wichtig zu wissen, dass der Mensch eine Person mit Absichten und gedanklichen Planungen ist. Sie sind es, die dem Verhalten Farbe und Muster geben. Durch sie gewinnen die Taten an Wert und Tiefe oder sie verlieren ihren Wert vollständig. In einem Hadith wird eine Person beschrieben, die auf dem Schlachtfeld sehr tapfer kämpft. Doch ihre Überlegung ist es, den Menschen zu zeigen, wie tapfer sie kämpft. Diese Scheintapferkeit bedeutet bei Gott nichts und dieser kann sich deshalb dem Paradies nicht nähern, im Gegenteil nähert er sich durch diese Haltung vielmehr der Hölle.

Ein anderer ist so reich wie Karun und gibt seine Schätze bis auf den letzten Pfennig als wohltätige Spende (infak) aus. Aber er tat es, um seine Großzügigkeit zu zeigen. Er bezweckte damit, dass die Menschen, die ihn sehen, ihn verehren und „Was für ein großzügiger Mensch du bist. So sieht Großzügigkeit aus!“ sagen. Auch diese Gedanken verderben diese großzügige Wohltat. Andere Taten und Tugenden wie Wissen, die Fähigkeit, wortgewandt zu sprechen oder Gedichte zu schreiben usw. können auch mit dem verglichen werden. Auch wenn einer Erstaunliches geleistet hat, aber ein wenig Selbstdarstellung und Anerkennungserwägungen in seine Werke einfließen lässt, vernichten diese Gedanken seine ganzen Wohltaten (thewāb).In dieser Hinsicht sollte nur Gottes Wohlgefallen in allen Taten angestrebt werden und nur so wird Seine Zufriedenheit erzielt.

Diejenigen, die nicht jeden Zustand und jedes Verhalten durch das Destillierapparat (imbik) des Gewissens gehen und sich nicht selbst zur Rechenschaft ziehen, werden sich vor Gott rechtfertigen müssen. Es ist unsere Pflicht, so unschuldig wir auch sein mögen, unser Verhalten zu kritisieren und zu analysieren, ob nicht etwas faul daran ist. Man kann sehr gute Dinge für das Wohl der Menschheit tun. Man kann zum Beispiel Zeitungen und Zeitschriften herausgeben, man kann einen eigenen TV-Sender gründen und man kann mit dem, was man tut, erfolgreich sein. Aber wenn man damit sein Ego verfolgt hat, werden all diese guten Taten, die man getan hat, im Jenseits um die Ohren gehauen und in einem Fiasko enden. Denn es ist nicht möglich, in irgendeinem Vorhaben erfolgreich zu sein, das nicht auf Gott beruht. Alles, was nach Augendienerei und Ohrendienerei riecht, ist gegen euch, gegen den Glauben und gegen die Menschheit. Alle Taten, die nicht auf Aufrichtigkeit (ihlas) beruhen, sollten als Abstufung durch Aufstufung betrachtet werden, auch wenn sie vorübergehend ein Erfolg zu sein scheinen.

Lüge als Wortlaut, der sich einem Ungläubigen ziemt

Wenn wir keine Enttäuschungen im Diesseits und im Jenseits erleiden wollen, müssen wir alle unsere Handlungen in dem Bewusstsein ausführen, dass wir sie vor Gott ausführen und er uns dabei zusieht. Daher sollten wir kein Wort sagen, noch ein Wort schreiben oder eine Tat verrichten, ohne Ihsān-bewusst zu sein. Von den einfachsten Gesten bis hin zum Blinzeln eines Auges sollten wir in jeder Haltung und jedem Verhalten stets Gottes Wohlgefallen suchen. Denn alle Taten, die nicht mit Ihm verbunden sind, sind Lügen.

Es sollte beachtet werden, dass das wichtigste Merkmal, das die Muslime in der Endzeit plagen wird, das Netzwerk der Versuchung die Lüge ist. Das Wort Dedjjāl  bedeutet auch Lügner. In der Tat wird dieses Wort nicht für einen normalen Lügner verwendet, da es im Arabischen in der Modalform der Übertreibung steht; es bezieht sich auf einen professionellen Lügner, der so professionell ist, dass er selbst an die Lügen glaubt, die er erzählt. Selbst wenn seine Handlungen scheinbar im Namen des Glaubens, im Namen des Islams, im Namen des Bewusstseins des ihsan, im Namen der Wohltat für die Menschheit geschehen, sind sie eine große Lüge, weil sie nicht auf Aufrichtigkeit beruhen, und all seine Versprechen für die Zukunft sind ebenfalls Lügen. Eine Lüge ist nach den Worten von Bediuzzaman eine Aussage, die einem Ungläubigen eigen ist (Lafz-i Kafir), aber sich nicht für einen Gläubigen ziemt.

Leider ist die Lüge zu einem der wichtigsten Fallen des Satans in unserer Zeit geworden. Ob es sich um tatsächliche, wörtliche, verbale oder fiktive Lügen handelt, täuscht und führt der Teufel viele in die Irre, indem er das Argument der Lüge in diesem Zeitalter benutzt. Die Pflicht eines wahren Gläubigen ist es, immer nach Aufrichtigkeit zu streben; sich genauso von Lügen fernzuhalten, wie man sich von Schlangen und Tausendfüßlern fernhält.

error

Gefällt Ihnen der Artikel? Dann abonnieren Sie die Fontäne als Print-Ausgabe.

0

Dein Warenkorb