Zwei Gipfel der Gottesliebe 

Tiefe spirituelle Reflexionen über die Transformation des Herzens
Fethullah Gülen

Die Bedeutung von Hullet und Hıllet

Hullet bezeichnet eine aufrichtige, innige Freundschaft, während Hıllet für eine tiefgehende Verbundenheit und geschwisterliche Vertrautheit steht. Hullet wird auch dahingehend interpretiert, dass sie das Wesen einer Sache verändert, indem sie in deren Substanz eindringt, sie von innen und außen umhüllt und in eine zweite Natur transformiert.

Das Vorbild Abrahams

Der Prophet Abrahm , der stets in einem Zustand vollkommener innerer Gewissheit lebte, erreichte durch die außergewöhnlichen Manifestationen göttlicher Gnade den Kern der Hullet.

Indem er verschiedenste Wandlungen durchlief, erreichte er – durch

seine Gefühle,

seine Gedanken,

seine Anstrengungen,

seine Mühen,

seine Worte

und sein spirituelles Gespräch (sohbet)

– den Horizont seiner Vervollkommnung. Im Laufe der Zeit wurde er selbst zum Ausdruck einer anderen Natur.

So kam es, dass er überall, wo er war, mit vollster Hingabe die Wahrheit (el-Haqq) verkündete – und Gott (El-Haqq) ihn als „Meinen Freund“ (Khalili) bezeichnete.

Hullet und Muhabbet im Vergleich

Im Gegensatz zu diesem Eindringen und Wirken der Hullet im menschlichen Herzen besteht Muhabbet darin, „die Pupille des Herzens” bzw. „den Kern des Herzens”, der bzw. die als Augapfel der göttlichen Feinheit erachtet wird, vollständig zu umhüllen, mit einer eigenen Farbe zu versehen und in ihrer bzw. seiner Eigenart sprechen zu lassen.1

In einem solchen Herzen, das durch Muhabbet in Bewegung gesetzt wurde und in Liebe wimmert, bleibt nichts Sonstiges (masiwa) außer Ihm; sämtliche weiteren Interessen und Verbindungen werden nach und nach ausgelöscht, sodass einzig Er gehört, gefühlt, gedacht und ausgesprochen wird.

Im Wesentlichen ist Hullet – in ihrer höchsten Entwicklungsform – eine Essenz, die dem Wesen des ehrenwerten Abraham anvertraut wurde.

Für ihn ist Hullet in seiner Beziehung zum Wahren Einen (El-Haqq) sowohl die erste Gabe, die ihm bereits verliehen wurde2, als auch eine barmherzige Geste, die sich in der tief verborgenen Treue seiner Seele manifestiert.

Eine solche Geste ist zugleich ein Sinnbild dafür, dass er als wegweisendes Vorbild für die nachfolgenden Generationen fungiert.

Die besondere Manifestation beim Propheten Muhammed

Diese umfassende Hullet-Beziehung im allgemeinen Sinn hat sich bei Muhammed , dem innigst Geliebten und Liebenden3, in Form von Aschq und Muhabbet manifestiert. Diese beiden Konzepte haben zusammen die Bedeutung einer höchst transzendenten Gotteserkenntnis, einer inneren Vertrautheit im Herzen und einer besonderen Zuwendung gegenüber dem erhabenen Vertrauten.4

Hullet ist eine reine Treue. Auch sie bringt einen bestimmten Geschmack und eine bestimmte Eigenart zum Ausdruck.

Muhabbet hingegen ist brennende Sehnsucht und Begeisterung (el-aschq we el-ischtiyaq), ein intensives Sehnen und ein Verbrennen5.

Im Gleichklang von Dankbarkeit und Kummer

Deshalb sind bei Hullet Begeisterung und Dankbarkeit ein paar Schritte voraus; Kummer (hüzn) hingegen liegt ein oder zwei Stufen zurück.

Mit anderen Worten: Während bei der Gefolgschaft der Hullet Begeisterung und Dankbarkeit (schewq we schukr) vorherrschen, stehen bei den Anhängern der Muhabbet stets Gedenken und Reflexion sowie ein ununterbrochener Kummer (hüzn-ü dâim) im Mittelpunkt.

Welch feine Manifestation ist das! Genauso war der stets anhaltende Zustand des ehrwürdigen Propheten  von einer unaufhörlichen Hoffnung (reca), einer inbrünstigen Anfrage (niyaz) und einem Anflehen (tazarru) gefärbt.

Der Gesandte Gottes Muhammed war ein Geliebter und zugleich Liebender, der die innige Freundschaft (Hullet) in spirituelle Liebe und Sehnsucht verwandelte. Er war sich dessen bewusst, einen solchen Grad der Auszeichnung erhalten zu haben. Er wusste, dass er „jenseits von Maß und Bedingung“ geliebt wurde, und atmete „grenzenlos und unermesslich“ ununterbrochen Liebe ein. Weder strebte er nach Rang noch nach Vereinigung. Er betete, weil er seinen Schöpfer erkannte, und vertiefte seinen Glauben durch Erkenntnisgewinnung. Stets eilte er auf die spirituellen „Gibt es noch mehr?“-Bahnen6, um noch umfassenderes Wissen zu erlangen.

Und in dem Maß, wie seine Erkenntnis einer Kaskade gleich in Strömen floss, liebte er Ihn mit gottesdienerschaftlicher Besonnenheit ohne Hintergedanken oder Gegenleistung mit aufrichtiger Liebe, selbst ohne nach Erreichung des Schöpfers (vuslat) zu streben.

Eine Gabe jenseits aller Auszeichnungen

Den Erhabenen in diesem Rahmen und mit solch einer Hingabe, die seiner Majestät gerecht wird, wahrhaft zu lieben, Ihn sehnsüchtig zu lieben und fortwährend in begeisterungsvoller Hingabe für Ihn ein- und auszuatmen, war eine außergewöhnliche Zuwendung Gottes für denjenigen  mit der stärksten Willenskraft – eine Auszeichnung jenseits aller Auszeichnungen, durch die er zum einzigen Helden dieses erhabenen Ranges wurde.7

Es war auch er, der der innigen Freundschaft die Farbe seiner eigenen Aufrichtigkeit verlieh und die tiefe Freundschaft im menschlichen Wesen mit brennender Sehnsucht und Begeisterung krönte (mögen auf ihm Gottes Segnungen und Sein Friede von der Erde und von den Himmeln sein).  

Anmerkungen

Der Text beschreibt einen zentralen spirituellen Prozess in der Vervollkommnungsreise. „Hullet“ steht dabei für den transformativen Einfluss göttlicher Energie, der tief ins Herz eindringt und es grundlegend verändert. Demgegenüber bezeichnet „Muhabbet“ die liebevolle Zuwendung, die den Kern des spirituellen Herzens vollständig umhüllt. „Der Kern”, ausgedrückt durch die Begriffe „Süveydaü’l‑kalb“ (die Pupille des Herzens) oder „Habbetü’l‑kalb“ (der reine Kern des Herzens). Wenn die göttliche Feinheit (latîfe‑i rabbâniye) hier den Kern des Herzens beschreibt, so bezeichnet „die Pupille des Herzens“ den Kern des Kerns. Damit wird der Kern des Kerns durch Muhabbet umhüllt. Durch diese Umhüllung erhält das Herz seine eigene Farbe und beginnt, in einer eigenen Art zu sprechen, was den Übergang in eine höhere spirituelle Ebene symbolisiert.

Vor seiner materiellen Erschaffung.

Habibullah: Hadith (Darimi, Muqaddime, 8; Tirmidhi, Menaqib, 1).

Dieser Satz hebt einen zentralen Aspekt der Vervollkommnungsreise hervor, indem er betont, dass die umfassende Beziehung der Hullet – verstanden als der tiefgreifende, innere Transformationsprozess des Herzens durch göttliche Gunstzuströme – sich beim Propheten Muhammed  in einer besonderen Weise manifestiert hat. Anders als in anderen Fällen, in denen Hullet primär mit dem Empfangen göttlicher Gunstströme und Gaben assoziiert wird, tritt beim ehrenwerten Propheten Muhammed eine spezifische Erscheinungsform zutage:

Hullet:

In der Sufi-Lehre bezeichnet Hullet den Prozess, bei dem das Herz durch den Einfluss des Göttlichen verwandelt wird. Diese Wandlung geht über das bloße Empfangen von Gaben hinaus und umfasst eine tiefgreifende innere Veränderung.

Manifestation beim ehrenwerten Propheten Muhammed:

Im Fall vom ehrenwerten Propheten Muhammed hat sich diese umfassende Beziehung nicht vorrangig durch äußere Gunstströme gezeigt, sondern vor allem in Form von aschq (intensiver, wahrhaftiger Liebe) und muhabbet (tiefer, freundschaftlicher Zuwendung). Diese beiden Formen der Liebe stellen den Kern seiner spirituellen Erfahrung dar.

Aschq und Muhabbet:

Aschq verweist auf die beinahe ekstatische Liebe zu Gott, während muhabbet die liebevolle, persönliche Zuwendung und Nähe beschreibt. Beim ehrenwerten Propheten Muhammed verbinden sich beide, sodass seine innere Transformation als ein lebendiges Beispiel wahrer, göttlicher Liebe erscheint.

Zusammengefasst bedeutet dies, dass sich beim ehrenwerten Propheten Muhammed der transformative Einfluss der Hullet nicht primär durch den Empfang äußerer Gaben ausdrückt, sondern durch die intensive, authentische Liebe zu Gott. Diese besondere Manifestation macht ihn zu einem herausragenden Vorbild innerhalb der Sufi-Spiritualität.

Hier wurde „ihtiraq” mit „Verbrennen” übersetzt. In der Sufi-Literatur steht „ihtiraq” für das innere Feuer intensiver göttlicher Leidenschaft. Es beschreibt, wie das Ego und die weltlichen Bindungen von der Flamme der göttlichen Liebe verzehrt werden – ein Prozess der Reinigung und Transformation, in dem der Suchende (Salik) seinen Willen im Willen Gottes auflöst.

Hel min mezîd. Sure Qaf, 50:30.

Mit diesen Worten ist der Prophet  gemeint, den der erhabene liebende und geliebt werdende Wedud, also Gott, auf eine ganz besondere Art liebte – mit einer Liebe, die seiner erhabenen Würde entspricht, nicht vergleichbar mit der zwischenmenschlichen Liebe (la teschbih we la temthil). Der Prophet empfand dabei eine tiefe, fast leidenschaftliche Sehnsucht und zeigte unaufhörlich begeisterte Hingabe, so sehr, dass sein ganzes Sein von diesem Streben erfüllt war. Diese außergewöhnliche Zuwendung zu Gott wird als eine seltene Gabe Gottes verstanden, die nur dem Propheten, also jenem mit der stärksten Willenskraft, zuteilwurde und ihn zum einzigartigen Helden auf einen sehr erhabenen Rang erhob.

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