Der Mensch mit seiner Position und Haltung im Angesicht des Rechts 2
Von M. Fethullah Gülen
Der Mensch ist dank seiner Beziehung zu Gott auch der einzigartige Verwalter der Verantwortung, die der Wahre als „Treuhandgut“ bezeichnet.
Ebenso wurde ihm im Rahmen der Stellvertreterschaft die Befugnis zur Verfügung und Herrschaft über die Geschöpfe übertragen.
Daher wurden ihm neben all seinen Ehrungen und Pflichten auch weitere Verantwortlichkeiten auferlegt, wie um Vertrauenswürdigkeit, Wahrhaftigkeit und Schutz vor den Sünden zu eifern.
Was sind die Ziele des „Verwalters des Treuhandguts“?
Er sollte gegenüber Gott sicher und aufrichtig sein; gegenüber den Menschen vertrauenswürdig und zuverlässig; gegenüber sich selbst verantwortungsbewusst und keusch und gegenüber allem und jedem, was unter seiner Verantwortung steht, barmherzig und verlässlich sein. Tatsächlich dreht sich der Geist der Stellvertreterschaft genau um diese Prinzipien; darüber hinaus beruht die Andersartigkeit des Menschen gegenüber den anderen Lebewesen größtenteils auch auf diesen Aspekten.
Die äußeren und inneren Wahrnehmungsorgane richtig einsetzen
Durch diese Eigenschaften legt er seine wahre Überlegenheit gegenüber der restlichen Existenz dar. Durch sie führt er sein Leben in Übereinstimmung mit seinem Herzen. Durch sie überwindet er die Diskrepanz zwischen seinen Wünschen und Erwartungen in Bezug auf das Jenseits und seinem unpassenden Verhalten … und durch jene Eigenschaften gibt er denjenigen, die ihn negativ betrachten, die überzeugendsten Antworten.
Ganz im Gegenteil, wenn er nicht danach strebt, Vertrauenswürdigkeit, Wahrhaftigkeit und Schutz vor Sündhaftigkeit zu bewahren, kann er die ihm anvertraute Wesenheit des Menschen nicht schützen, wie es sich einem Menschen gebührt.
Folglich kann er seine äußeren und inneren Wahrnehmungsorgane gemäß dem Sinn ihrer Erschaffung nicht einsetzen.
Genauso kann er auf das Wohlgefallen Gottes weder in religiösen und noch in weltlichen Anliegen bedacht sein. Ebenso kann er sich nicht so weit wie möglich von den Verderblichen fernhalten.
Was sind die Verantwortlichkeiten der „höchsten Höhen“?
Sollte er aber zunächst gegenüber den Menschen wie auch allen anderen gegenüber nicht wie ein gewissenhafter Stellvertreter und Treuhänder Gottes handeln, so könnte er wie ein Verräter, ein Dieb, ein Übeltäter oder ein Angreifer in die „tiefsten Tiefen“ hinabfallen, obwohl sein potenzieller Rang auf den „höchsten Höhen“ ruht.
Ja, seien es die Rechte und Pflichten gegenüber Gott, oder seine Verantwortungen und Verpflichtungen gegenüber seinem Selbst (Nefs) oder aber seine Achtung der Rechte anderer Diener Gottes … all diese Angelegenheiten bilden die Gesamtheit seiner Verantwortlichkeiten, die ihn zum Menschen machen und womit er durch seine Andersartigkeit als Mensch auf Erden beauftragt und gesendet worden ist.
Die Beziehung zwischen gesellschaftlichem Geist und der Gewissensentfaltung
Es liegt jedoch zum großen Teil an der Vitalität und Weite des Gewissens, ob er diesen Verpflichtungen vollständig nachkommen kann. Es ist vergeblich, von Menschen mit engem Gewissen zu erwarten, dass sie diese Verantwortlichkeiten fehlerfrei erfüllen mögen. Das Gewissen wird durch Unwissenheit, Hochmut, Stolz, Selbstsucht eingeengt, zusammengezogen und zu einem engen Pfad des Egozentrismus. Die Weite des Gewissens ist ein himmlisches Geschenk an diejenigen, die mit Wissen, Erkenntnis, Liebe, Ehrfurcht und Altruismus erfüllt sind.
Wenn ein Gewissen sich in Liebe zum Wissen vertieft, leidenschaftlich nach Gotteserkenntnis strebt und seine Atemzüge mit Liebe genießt, während es mit Zuneigung zu allen anderen beseelt ist, ob des Schöpfers Willen, beginnt es, einen gesellschaftlichen Geist zu entwickeln. Diesen Zustand bezeichnen wir als Gewissensweite oder – entfaltung.
„Insan“, der Freund des ganzen Seins
Dieser Gesellschaftsgeist lässt sich gleichermaßen so definieren, dass der Mensch sich von jeglichen egoistischen Haltungen und Verhalten löst und sich auf die Freundschaft konzentriert, die seinem Wesen immanent ist und die Wurzel seines Namens „Insan“ befindet.
Mit einer solchen Freundschaft sieht er seinen Herrn als den „Höchsten und Allumfassenden“ und er verspürt durch Seine barmherzigen Zuwendungen, dass das ganze Sein mit Freundschaft ein- und ausatmet.
Er antwortet stets warmherzig auf alles und jeden. Dabei weiten sich sein Herz und seine Brust, dass sie alle Welten umfassen, während sich der Raum in seinem Geist für Hochmut, Stolz, Arroganz und Egoismus immer weiter einengt.
Auf diese Weise wird er zu einem Menschen der Demut und Bescheidenheit, während sich sein persönliches Umfeld plötzlich in eine spirituelle Atmosphäre verwandelt, in der fortlaufend spirituelle Brisen verspürt werden.
Von der Gewissensweite zur Weite des sozialen Geistes
Tatsächlich beginnt die Weite und der Umfang einer Gemeinschaft beim Individuum. Wenn das Individuum einen weiten Geist und ein weitreichendes Gewissen besitzt, wird die Gesellschaft diese Vollkommenheit widerspiegeln.
Wenn das Individuum in seinen Gefühlen eng und in seinen Gedanken dem Egoismus verfallen ist und in seinen Überlegungen sein Ego nicht überwinden kann, ist es undenkbar, dass aus solchen Fragmenten ein solides Sozialgefüge entsteht und die Bildung einer großen und erhabenen Gemeinschaft wird ganz und gar unmöglich!
Denn das, was eine Gesellschaft wirklich gedeihen und hochsteigen lässt, ist die Weite des sozialen Geistes der einzelnen Personen, die diese Gesellschaft bilden … und die Zukunft einer solchen Gesellschaft, ihre Langlebigkeit und ihre signifikante Dienstleistung im zwischenstaatlichen Gleichgewicht, hängen ebenfalls von diesem sozialen Geist ab.
Wenn die einzelnen Individuen in Bezug auf ihre Denkweite ihre Egos nicht überwinden können und diejenigen, die es vermögen, dies nicht angemessen zum Ausdruck bringen können, indem sie es nicht schaffen, allen Mitgliedern der Gemeinschaft, der sie angehören, Gehör zu verschaffen, ist es unvermeidlich, dass eine solche Gesellschaft im Laufe der Zeit austrocknet, sich auflöst und von anderen verschlungen wird.
Die Folgen einer egoistischen Gesellschaft
Wir können sagen, dass die zeitgeschädigten Kinder einer unglückseligen Region, die die dunkelsten und trostlosesten Tage in ihrer Geschichte erleben, sich heute womöglich mit den bittersten Beispielen davon konfrontiert sehen.
In unserem Gemeinwesen hätte das nicht passieren sollen; denn wir hatten eine Dynamik, mit der wir uns den Herausforderungen der Welt stellen konnten, nämlich den Glauben. In Bediüzzamans Worten: „Der Glaube ist sowohl Licht als auch Kraft. Wer den wahren Glauben verinnerlicht hat, kann es mit der gesamten Welt aufnehmen.“
Aber womöglich haben wir ernsthafte Probleme in Bezug auf Glaubensthemen. Sie erschüttern die unbesiegbare Kraft des Glaubens teilweise oder brechen ihn sogar und hindern uns daran, uns vollständig mit dem Islam zu vereinen und ihn zu einem integralen Bestandteil unseres Wesens zu machen.
Was folgt der Erschütterung des Glaubens?
Daher hängen wir ständig an unserem Egoismus fest. Wir verschwenden unsere Kräfte durch unseren Stolz, unseren Hochmut; unsere Gier, unseren Hang zum Ruhm, unseren Machthunger, unsere Neigung zu grober Gewaltanwendung, entfremden uns von der Gesellschaft, in der wir leben und verengen unseren Gewissenshorizont und töten unseren gesellschaftlichen Geist.
So können wir nie wirklich mit den Mitgliedern unserer Gesellschaft zusammenkommen, sie nicht so fühlen wie uns selbst, mit ihnen Freude und Schmerz teilen; stattdessen greifen wir ständig an und zerfleischen uns gegenseitig.
Wie waren wir früher?
Früher verband uns der gemeinsame Glaube fest miteinander, und unsere Gottesdienste brachten uns täglich mehrmals zusammen. Durch unsere hohen Ideale und unsere Seelen, die dem Schöpfer gewidmet sind, waren wir sowohl Ihm als auch den Menschen immer nahe. Unser Gefühl, Diener Gottes zu sein, befreite uns von der Knechtschaft gegenüber den anderen und ermöglichte es uns, wahre Freiheit zu erleben.
Durch unsere Gedanken- und Glaubenswelt lebten wir buchstäblich in einer Welt der Ideale. Wir verrichteten das Hauptgebet und fühlten uns durch die Hingabe an Gott belebt. Wir fasteten und fühlten uns, als würden wir unsere Annäherung an Gott selbst wahrnehmen können. Wir leisteten die Pflichtabgabe. Wir sahen uns als Verwalter des uns anvertrauten Reichtums Gottes an. Und empfanden Dankbarkeit gegenüber den Almosennehmern dafür, dass wir durch sie von unserer Verantwortlichkeit befreit wurden, indem wir ihnen das gaben, was ihnen zustand … und in all unseren individuellen Verantwortlichkeiten behandelten wir unser Umfeld mit seidenen Handschuhen, sandten herzliche Botschaften und verbrachten unser Leben in der Atmosphäre des gesellschaftlichen Geistes, als wären wir im Paradies angekommen.
Geist der Geschwisterlichkeit
Wir waren mit allen zusammen, fühlten nie den Schmerz, den wir heute fühlen, und dank der Weite unserer Gewissen herrschte überall in der Gesellschaft eine tiefe Ruhe und Zufriedenheit. Der Hochmut war zerbrochen, der Egoismus war zerstört, der Stolz war gebrochen, die Eifersucht wie ein verstoßener Dieb, der von jeder Tür abgewiesen wurde. Hass und Feindschaft wurden regelrecht zu einer Waffe gegen den Teufel und die teuflischen Eigenschaften selbst, und überall war ein Geist der Geschwisterlichkeit präsent.
Tatsächlich, wie könnte es überhaupt eine Verbindung zwischen jemandem geben, der sagt: „Es kann nur so sein, wie meine Position und mein Status es verlangen“, und sich angesichts der Größe und Majestät Gottes verneigt, sich demütig vor ihm hinwirft, sich als ein Mensch unter den Menschen betrachtet, sich bei ihnen zu befinden als eine Verantwortung des gemeinschaftlichen und des sozialen Geistes wahrnimmt, und jemandem, der durch Stolz, Hochmut, Egoismus, Gier, Feindschaft und Hass den Menschen erniedrigt, sein Gewissen einengt, die Grundveranlagung des Menschseins in den Kerker der Fleischlichkeit einsperrt? Nein, es sollte keinerlei Verbindung zwischen den beiden geben!
Außerdem kommt hinzu, dass er sich weder von jemandem erniedrigen lassen noch sich vor jemandem verneigen sollte.
Denn obwohl er sich jeden Tag mehrmals vor Gott niederwirft, ist er dennoch so würdevoll, dass er sich auch dem größten der Geschöpfe nicht demütig beugt, und so frei, dass er sich vor Königen nicht verneigt.
Vor allem durch das Hauptgebet und andere Gottesdienste ist er ein Reisender auf dem Weg der Himmelfahrt Miradj; Miradj, ist die Bezeichnung für die Reise zu den himmlischen Sphären jenseits der Himmel, jenseits aller Grenzen.
Ein Mensch des Herzens, der täglich mehrmals durch seine Niederwerfung in die Sphären der Engel aufsteigt und die spirituellen Wesen mit Gottesgruß begrüßt, der den Rang der Annäherung zu Gott erreicht hat, hat bereits gefunden, wonach er sucht, und sich von allen Einbildungen und Unwahrheiten befreit. Für eine solche Person haben weder Sultane noch Könige oder Kaiser irgendeine Bedeutung.
Denn sie ist frei und unabhängig, spricht jeden Tag mindestens vierzigmal die koranische Ehrenbezeichnung „der Herrscher des Jüngsten Gerichts“ aus und tut so ihre Verbindung zum Sultan aller Sultane kund.
Diese Freiheit ist von solch himmlischem Wert, dass sie weder veräußerlicht noch durch irgendetwas anderes ausgetauscht werden kann.