RADSCHA‘ (Hoffnung, Erwartung) 

Von M. Fethullah Gülen

Sufis warten voller Hoffnung darauf, dass etwas eintritt, was sie sich von ganzem Herzen wünschen. Sie hoffen, dass Gott sie wegen ihrer guten Taten annimmt und ihnen ihre Sünden vergibt. Der Begriff Radscha‘ verleiht ebendieser Hoffnung Ausdruck. 

Hoffnung oder auch Erwartung basieren auf der Vorstellung, dass einerseits jeder Mensch für seine Irrtümer und Sünden verantwortlich ist und andererseits alles Gute Gottes Barmherzigkeit entspringt und selbst Gottes Gnade verkörpert. So muss ein Reisender zu Gott streben, indem er um die Vergebung seiner Sünden bittet und versucht, sich vom Bösen fernzuhalten und Gutes zu tun. Andernfalls läuft er Gefahr, sich in Sünden und Fehlern zu verfangen und angesichts seiner guten Taten und Eigenschaften von Hochmut ergriffen zu werden. Außerdem muss er in dem ständigen Bewusstsein leben, von Gott beaufsichtigt zu werden, und immer wieder unermüdlich voller Reue und demütig flehend an Seine Tür klopfen. Wenn es einem Eingeweihten gelingt, eine Balance zwischen Furcht und Hoffnung herzustellen, wird er weder an der Aufgabe verzweifeln, ein vollkommener geliebter Diener Gottes zu werden, noch aufgrund seiner Erfolge überheblich werden und so seine Pflichten wegen übersteigerter Erwartungen vernachlässigen.

Alle, die dem Allmächtigen gegenüber loyal sind, teilen die berechtigte Erwartung an den Eingeweihten, sich aller Sünden zu enthalten und möglichst viel Gutes zu tut, um voller Hoffnung an die Tür Gottes klopfen zu können. Man darf nicht davon ausgehen, Gunst und Belohnung zu erhalten, ohne seinen obligatorischen Pflichten nachgekommen zu sein und so gelebt zu haben, als bereite man sich schon auf der Erde auf das Paradies vor. Gott ist schließlich nicht dazu verpflichtet, jedem den Zutritt zum Paradies zu gewähren, unabhängig davon, ob er sein Leben in Sünde zugebracht hat oder nicht. Wer dies annimmt, gibt sich falschen Hoffnungen hin und bekundet zudem noch seine Respektlosigkeit gegenüber dem barmherzigen Gott.

Für Sufis sind Hoffnung oder Erwartung keine Wünsche. Ein Wunsch ist eine Bitte, bei der nicht sicher ist, ob sie erfüllt wird. Hoffnung oder Erwartung bedeuten, dass ein Eingeweihter selbst alle rechtmäßigen Mittel ergreift, um ein erwünschtes Ziel zu erreichen, und dass er, um die Gnade Gottes (zu sich selbst) herabzurufen, mit geradezu prophetischer Einsicht und einem entsprechenden Bewusstsein sein Bestes tun muss, damit sich ihm alle Türen der Herberge Gottes öffnen. 

Anders ausgedrückt beinhaltet Radscha‘, dass der Eingeweihte fest daran glauben muss, dass die Gnade Gottes genauso wie Seine anderen Eigenschaften (z. B. Wissen, Wille und Macht) die ganze Schöpfung erreicht und damit auch ihn einschließt. Genau darauf wird in dem Vers Doch Meine Barmherzigkeit umfasst alle Dingehingewiesen. Auch ein Hadith qudsisagt: Gottes Gnade übersteigt Seinen Zorn.

Gleichgültigkeit gegenüber einer Gnade, von der zu profitieren selbst der Satan im Jenseits hoffen darf, und Zweifel an der Tatsache, selbst von ihr umfasst zu sein (was faktisch hieße, sie in Abrede zu stellen), sind unverzeihliche Sünden. 

Hoffnung bedeutet, dass der Eingeweihte die Wege zu Gott mit größtmöglichem Vertrauen zu Ihm, dem Freigebigen und Liebevollen, beschreitet. M. Lutfi Efendi drückte seine Hoffnung so aus:

Sei gütig zu mir, mein Herrscher, vergiss nicht, die Armen und Bedürftigen zu bevorzugen! Schickt es sich für den Gütigen und Freigebigen, Seine Diener nicht zu bevorzugen? 

Wer durch die Güte Gottes so belohnt wird, wie es M. Lutfi Efendi beschreibt, findet in ihr wohl einen unermesslich wertvollen Schatz. Vor allem dann, wenn er all das, was er einst besaß, verloren hat, Unglücken ausgesetzt ist oder sich seiner Unfähigkeit, Gutes zu tun und sich vor dem Bösen zu schützen, bewusst ist; kurz: Wenn er keine Mittel mehr besitzt, zu denen er greifen kann, und alle Wege beim Urheber aller Umstände und Anstrengungen enden, fungiert die Hoffnung als Licht auf seinem Weg oder als Bergführer Gottes, der den Menschen auf Gipfel führt, die er als normaler Mensch niemals erreichen könnte. 

An dieser Stelle muss ich einfach an die Hoffnung erinnern, die Imam Schafi’i auf seinem Totenbett in Gaza in Worte fasste: 

Als mein Herz hart war und der Weg vor mir blockiert,

Diente mir meine Hoffnung als Leiter zu Deiner Vergebung; 

Meine Sünden sind, wie ich glaube, zu groß, 

Doch wenn ich sie, o Herr, aufwiege gegen Deine Vergebung, 

So ist die Vergebung viel größer als sie.

Furcht zu empfinden, um sich von Sünden fernzuhalten und sich Gott zuzuwenden, ist ratsam; ist man aber verzweifelt und die Zeichen des Todes erscheinen, sollte man sich an der Hoffnung festhalten. Damit man sich nicht zu sicher vor der Strafe Gottes fühlt, sollte man angsterfüllt sein; um aber Niedergeschlagenheit und Depressionen zu entkommen, braucht man Hoffnung. Daher sollte der Mensch einerseits selbst zu Zeiten, in denen er alle ihm auferlegten Pflichten erfüllen kann, Furcht verspüren, andererseits aber in Zeiten, in denen er kaum eine einzige gute Tat vollbringen kann, nicht die Hoffnung verlieren. Dies wird im Bittgebet des Yahya ibn Mu’adh deutlich: 

O Gott, wenn ich eine Sünde begangen habe, hege ich gewöhnlich mehr Hoffnung im Herzen als nach guten Taten. Denn dann bin ich durch Mängel und Unzulänglichkeiten ‚beeinträchtigt‘ und niemals frei von Sünde oder gar unfehlbar. Beschmutze ich mich also mit Sünden, verlasse ich mich nicht auf Taten oder Handlungen, sondern allein auf Deine Vergebung. Wie sollte ich mich auch nicht darauf verlassen, sehe ich doch, dass Du der Eine Großzügige bist.

Viele behaupten, Hoffnung und ‚eine hohe Meinung vom Wesen Gottes zu haben‘ (Gott vor allem als einen gnädigen und verzeihenden Gott zu betrachten, und nicht so sehr als einen bestrafenden) sei ein und dasselbe. Der folgende Hadith qudsi sagt, warum: 

Ich behandele meinen Diener so, wie er es von Mir erwartet.

Jemand sah einst Abu Sahl im Traum, der von unbeschreiblicher Gnade und Segen umhüllt war. Er fragte ihn, warum ihm denn eine so hohe Belohnung zuteilwurde. Abu Sahl erwiderte: „Durch die hohe Meinung, die ich von meinem Gott habe.“

Daher sollten wir festhalten, dass niemand die unendliche Gnade Gottes, die sich in der Hoffnung manifestiert, unterschätzen sollte. Selbst wenn ein Mensch stets Gutes tut und sich Aufrichtigkeit und Uneigennützigkeit bewahrt, zählt dies nur wenig; denn seine Leistungen sind, verglichen mit der Vergebung Gottes, die eines begrenzten Wesens mit beschränkten Fähigkeiten.

Furcht und Hoffnung gehören zu den größten Geschenken, die Gott in die Herzen der Menschen pflanzt. Wenn es jedoch ein Geschenk gibt, das noch größer ist, dann ist es die Balance zwischen diesen beiden. Sie kann wie Flügel aus Licht dazu genutzt werden kann, zu Gott zu gelangen.  

error

Gefällt Ihnen der Artikel? Dann abonnieren Sie die Fontäne als Print-Ausgabe.

0

Dein Warenkorb