Für einen europäischen Islam
Europa wird in den kommenden Jahrzehnten kein Thema prägen wie der Umgang mit dem Islam. Im Äußern fordert ein Krisengürtel Europa heraus. Er reicht vom Kaukasus über den Nahen Osten bis an den Atlantik, und er verläuft quer durch die islamische Welt: mit dem Erdöl, das Europa braucht; mit Migranten, die Europa fernhalten will; mit der Gewalt, die die islamische Welt ebenso bedroht wie Europa. Im Innern Europas wächst keine Bevölkerungsgruppe so schnell wie die Muslime. Längst ist der Islam in Europa angekommen. Noch immer wird er von vielen Menschen hierzulande nicht als eine europäische Religion, sondern trägt in den Augen der meisten Europäer rückständige Werte nahöstlicher Gesellschaften mit sich. Noch immer also ist der Islam für viele Europäer nicht mit den Werten und den Gesellschaftsordnungen Europas vereinbar.
Europa muss jedoch an einem Islam Interesse haben, der die Errungenschaften der abendländischen Zivilisation nicht zugunsten rückwärtsgewandter Gesellschaftsmodelle in Frage stellt. Weil sie nur wenige Ansatzpunkte für einen modernen Islam sehen, haben viele Menschen in Europa Angst vor der Religion. Genährt wird die Angst von Vorurteilen, aber auch von der Realität – von Predigern des Hasses und von der Abschottung muslimischer Fanatiker in ihren eigenen Ghettos
Ein Islamverständnis, der Europa ermutigt – und auch die Muslime -, gibt es indessen bereits: Entstanden ist er in der Türkei, formuliert hat es der Prediger Fethullah Gülen. Die Glaubenslehren des Islam sind überall dieselben. Sehr verschieden ist dennoch die Praxis des Islam: In Afghanistan tragen die Frauen Burqas, in der Türkei sind sehr viele unverschleiert; der schiitische Islam Irans unterscheidet sich vom asiatischen Islam Indonesiens, der in Syrien von dem in Sudan.
Wäre der Islam die finstere und unfreiheitliche Religion, wie ihn heute einige Führer und Fanatiker der islamischen Welt präsentieren: seine Zivilisation wäre nie der abendländischen in dem Maße überlegen gewesen, wie er es bis zur Entdeckung der Neuen Welt durch Columbus war. Menschen, die sich auf den Islam berufen, können zur Ignoranz oder zur Despotie fähig sein, aber auch zum wissenschaftlichen Fortschritt und zur Freiheit. Die einen greifen zur Waffe, die anderen zum Wort.
Fethullah Gülen leitet den Islam aus seiner Sackgasse, in die ihn die Verwirrungen der Geschichte geführt haben. Kritisch setzt er sich mit den Verknöcherungen der orthodoxen Geistlichkeit auseinander. Sie haben die Mystik (tasavvuf) aus den Lehrplänen gestrichen, und sie haben verhindert, dass in sie die modernen Wissenschaften aufgenommen wurden, klagt Gülen. So habe auch der Koran unter der „Trivialität der Menschen“ gelitten, und er sei in den „Sog primitiver Vorstellungen“ geraten.
Als die Stellvertreter Gottes auf Erden sollten die Menschen das Universum indessen erforschen, wünscht Gülen. Und dabei ein Gleichgewicht von Spiritualität und Gelehrsamkeit finden. Gülen fordert ein lebenslanges Lernen und eine neue Arbeitsethik. Dabei zitiert er Akif Ersoy: „Vertraue auf Gott und sei fleißig.“ Gülen stellt als Beispiel die Pioniere heraus, die selbst dann nicht verzweifeln, wenn sie in der Wüste Rosen züchten sollen. In der Türkei ist diese Arbeitsethik die Grundlage für den Erfolg einer neuen anatolisch geprägten wirtschaftlichen Elite geworden.
Die Botschaft Gülens geht weit darüber hinaus: die Menschen können friedlich miteinander leben, der Islam und die Demokratie sind miteinander vereinbar, und Huntingtons Zusammenstoß der Zivilisationen ist nicht das unvermeidliche Schicksal der Menschheit. Der Islam lasse viele Staatsformen zu, argumentiert Gülen. Zu befolgen seien lediglich Grundprinzipien wie die Priorität des Rechts, der Gerechtigkeit und der Rechtsstaatlichkeit. Einige Rechte des Individuums dürften grundsätzlich nicht der Gesellschaft geopfert werden: etwa die Unantastbarkeit des Lebens, das Privateigentum, die Glaubensfreiheit und das Recht auf freie Meinungsbildung. Die Regierungsverantwortung sei dem Volk übertragen, und der Staat basiere auf einem „gesellschaftlichen Abkommen“. Er gehe aus freien Wahlen der Bürger hervor. Dem Fatalismus erteilt Gülen eine Absage, wenn er schreibt, gerade der von einem freien Willen angetriebene Mensch sei der Motor der Geschichte.
Das klingt nicht nach einer Herausforderung für die westlichen Demokratien, sondern nach einer Weiterentwicklung der politischen Praxis der Muslime. Das hilft ihnen, und es hilft dem Westen. In allem, was Gülen schreibt und predigt, zitiert er Suren des Koran und Hadithe Muhammads. Immer befindet er sich auf einem stabilen theologischen Fundament – ist aber dennoch das völlige Gegenteil eines Fundamentalisten.
Gülen sucht die Faktoren, die in der Gegenwart islamische Gesellschaften mit dem Terror verstricken. Er nennt an erster Stelle die Gleichsetzung von Islam und nationaler Befreiung als Folge jener Rolle, die der Islam einst bei den Befreiungskriegen gegen die Kolonialmächte gespielt hatte; er bezeichnet Herrschaft raffgieriger Oligarchen, die nicht selten vom Westen unterstützt worden sind oder noch werden; er nennt ferner Armut, Unwissenheit, mangelnde Bildung sowie die Aushöhlung von Religion und religiösen Werten. Den Terroristen sei die Spiritualität abhanden gekommen, klagt Gülen.
Dennoch entschuldigt er nichts: Er bedaure, daß einige Führer und unreife Muslime keine andere Waffe als ihre fundamentalistische Interpretation des Islam hätten. Wenn ein Ziel gerecht sei, müsse es auch das Mittel sein. Wer einen anderen töte, gehe nicht ins Paradies ein, schreibt Gülen. Am Jüngsten Tag würden sie jenen gleichgesetzt, die Gottes Existenz grundsätzlich leugneten. Denn der Koran lehre, daß jener, der auch nur einen Menschen töte, die ganze Menschheit töte. Und wer als Individuum anderen den Krieg erkläre, begehe schon dadurch eine Tat des Terrors. Lange werde es dauern, den Schaden zu beheben, den Bin Laden für den Islam angerichtet habe, bedauert Gülen.
Im globalen Dorf der Gegenwart seien die Völker und Menschen mehr denn je aufeinander angewiesen und voneinander abhängig, schreibt Gülen. Von den modernen „Netzwerken der Beziehungen“ profitierten aber auch die Schwächeren. Ihre Geistesverwandtschaft und gemeinsamen Verantwortung für eine friedlichere Welt mache gerade den Dialog zwischen den Religionen zwingend erforderlich. Auch wenn sich die Wahrnehmung der Welt als globales Dorf verdichten, würden doch auch weiter verschiedene Glaubensvorstellungen und Ethnien zusammenleben. Daher dürfe niemand daran gehindert werden, in Übereinstimmung mit seinen eigenen Prinzipien zu leben. Gerade der Islam habe in der Geschichte die am längsten währende Phase der Toleranz beschert, blickt Gülen zurück. Und gerade heute sei die Menschheit dringender denn je auf Toleranz angewiesen.
Friede werde es in diesem globalen Dorf nur geben, so lautet einer der zentralen Aussagen von Gülen in seinen Texten, wenn die Unterschiede zwischen den Menschen als wertvoller Teil der menschlichen Existenz akzeptiert würden. Sonst drohten Konflikte, Streitigkeiten und letztlich sogar der Untergang der Welt. Daher lehnt sich Gülen auch gegen Huntington auf. Ihm wirft Gülen vor, nur neue Feindbilder und Fronten zu schaffen und zu versuchen, mit Hilfe von geschürten Konflikten die Herrschaft von Machtblöcken zu verlängern. Religion aber, insistiert Gülen, habe dem Frieden zu dienen.
Den Fanatikern unter den Muslimen hält Gülen vor, gerade sie hätten zu verantworten, daß sich die Mehrheit der Muslime falschen Anschuldigungen ausgesetzt sehe. Ihnen hält er als Maxime entgegen: „Ohne Fäuste gegen jene, die uns schlagen; ohne Schmähung gegen jene, die uns beleidigen.“ Gerade die islamische Mystik lehre, dass der höchste Rang des Menschen jener der Liebe sei, und Liebe sei auch der Existenzgrund des Universums, schreibt Gülen. Dabei zitiert er seinen geistlichen Lehrmeister Saidi Nursi: „Wir sind Verfechter der Liebe, für Streitigkeiten haben wir keine Zeit.“ Mit Verhebung und Nachsicht könne man auch heute so viele Wunden heilen.
Gülen zählt von der Liebe erfüllte Menschen auf – Rumi, Yunus Emre, Ahmet Yesevi, Saidi Nursi. Sie alle sind Mystiker. Und sie alle haben das tolerante türkische Islamverständnis geschaffen. Fruchtbares Denken läßt Gülen überhaupt nur im Zusammenhang mit der Metaphysik und Spiritualität zu. Gerade die Mystik – und nicht etwa die blinde Befolgung von in Buchstaben gegossener Gesetze – sei der Pfad zur Erkenntnis Gottes, der Weg zur Vervollkommnung des Menschen.
Den Begriff Jihad verwirft Gülen nicht. Nur verwirft er seine Reduktion auf den Krieg und das Schlachtfeld. Ungleich wichtiger ist Gülen „der große, der innere“ Jihad. In ihm erkläre der Gläubige etwas ganz anderem den Krieg: nämlich den zerstörerischen Gefühlen, dem Haß und der Hochmut in sich selbst. Den anderen, „den kleinen und den äußeren Jihad“ will Gülen auf die Reform der Gesellschaft sowie auf Anstrengungen zugunsten der Familie, der Verwandten und der Religion ausrichten. Ihre Aufgabe sei eben nicht der Krieg, sondern das Beseitigen der Hindernisse zwischen dem Glauben und den Menschen.
Gülens Aufruf zu „Liebe und Toleranz“ richtet sich an Muslime ebenso wie an Nichtmuslime. Beiden will es Hoffnung geben und einen Weg weisen. Nicht lange hält sich Gülen mit Schuldzuweiszungen über die Vergangenheit auf. Darum geht es ihm nicht. Ihm geht es darum, dem Islam seine frühere Dynamik zurückzugeben, seine Toleranz und seine Spiritualität, und den Muslimen ihre Kreativität. Vor diesem Islam braucht sich Europa nicht zu fürchten. Gülens Auslegung des Islam wird im Gegenteil Europa bereichern.