Samt

Von M. Fethullah Gülen

Samt bedeutet schweigen, vermeiden zu sprechen. Die Sufis wollen damit zum Ausdruck bringen, dass selbstbeherrschtes Schweigen dem Reden vorzuziehen ist, da dieses Gefahr läuft, in nutzlosen oder gar abträglichen Äußerungen zu münden.

Eingedenk Gottes Warnung Kein einziges Wort spricht er aus, ohne dass ein Wächter bei ihm ist, stets gegenwärtig (50:18) weist samt auch darauf hin, dass man nur dann sprechen sollte, wenn es wirklich notwendig ist, und nur zu Seinem Wohlgefallen. Der Ausspruch Sag Gutes, oder schweig!1 des Propheten Muhammad, der glanzvollen Nachtigall der Schöpfung, stellt eine kurze und bündige Definition von samt dar und liefert uns einen Bezugsrahmen, an den wir uns in Sprechen und Schweigen halten können. Aber vergessen wir auch einen weiteren Ausspruch des Propheten nicht: Lass deine Rede Weisheit sein und dein Schweigen Reflexion.2 Zu viel zu reden, vor allem jedoch zu viel zu schwatzen, ist etwas, was schon immer geringgeschätzt und als eine Sünde betrachtet wurde, die ins Verderben führt. All jene, die in das spirituelle Reisen zu Gott eingeweiht wurden, hat man immer wieder davor gewarnt, zu viele hohle Worte zu verschwenden, weil das eine Sünde der Zunge ist. Wer als Reisender auf den Pfaden Gottes zu viel isst, zu viel schläft oder zu viel redet, legt sich damit ein Halsband um den Nacken, eine Kette an die Füße und Handschellen um die Handgelenke, da all dies zu Fehlern und zum Sündigen verleitet. Ein Ausspruch, der dem Kalifen Umar zugeschrieben wird, unterstreicht das: „Wer häufig redet, irrt häufig.“3

Sowohl die Bücher zum Thema Ethik als auch die Sendschreiben der Sufis haben den Schweigegedanken in aller Ausführlichkeit diskutiert, jedes aus seiner ureigenen Perspektive heraus. Sie haben dieser Tugend großen Wert beigemessen, indem sie sie als Reichtum des Eingeweihten charakterisierten, als einen geheimen Schatz für all diejenigen, die das Ziel ihrer Reise erreicht haben, oder als ein Zeichen von Wohlverhalten bei gewöhnlichen Gläubigen Das heißt aber natürlich nicht, dass ein gläubiger Mensch immerzu schweigen sollte. Er sollte sprechen, um Ratschläge zu erteilen, um Gutes zu fördern und Schlechtes zu verhindern, um zu lehren und rechtzuleiten oder um Schädliches zu beseitigen und Nützliches hervorzubringen. Unsere Religion fordert uns auf zu sagen, was gesagt werden muss, um Wahrheit und Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen, damit jeder erhält, was ihm rechtmäßig zusteht. In solchen Fällen verbietet sie uns sogar zu schweigen. Geradeso wie es schädlich und verachtenswert ist zu sprechen, ohne die Zustimmung oder das Wohlgefallen Gottes zu finden und ein statthaftes Ziel zu verfolgen, ist es schädlich und verachtenswert zu schweigen, wenn die Stimme zu erheben unbedingt angebracht wäre. Obwohl es also im Allgemeinen gut und empfehlenswert ist zu schweigen, ist es manchmal auch besser, sich zu Wort zu melden. Oder, um es anders auszudrücken: Schweigen ist nicht immer Gold, zuweilen ist es auch Silber. Wichtig ist zu wissen, wo und wann man schweigen beziehungsweise sprechen sollte. In einem Hadith wird ein Mensch, der schweigt, wo Recht und Gerechtigkeit verletzt werden und die Wahrheit herabgewürdigt wird, als ein stummer Teufel bezeichnet. Menschen, die lügen und ohne Sinn daherschwatzen, gelten als die Freunde und Übersetzer Satans. Wenn diejenigen, die ihre Stimme erheben sollten, tatsächlich die Chance zu sprechen ergreifen, und diejenigen, deren Worte nicht weiterführen, schweigen, dann zeugt dies von verantwortlichem Verhalten und zeigt, dass die Betreffenden wissen, welcher Platz ihnen auf dem ‚Marktplatz des Denkens und Sprechens‘ gebührt. Darauf anspielend wurde einmal gesagt:

Wenn Kupfer deine Ware ist, Bruder,

dann biete es nicht auf dem Markt zum Verkauf feil.

Überlass den Markt den Spezialisten für Edelsteine!

Wer in der Gegenwart von Menschen schweigt, die Zugang zu tiefen spirituellen Zuständen und Weisheit besitzen, zeigt damit, dass er über Wohlverhalten verfügt und spirituelle Zustände und Weisheit respektiert.

Scheich al-Islam Yahya Efendi4 äußerte sich einmal wie folgt zu diesem Thema:

Leih dein Ohr den Worten derer, die in tiefen spirituellen Zuständen weilen.

Vergleiche ihre Worte nicht mit anderen Worten.

Du weißt, o Prediger, dass kein Wort wie das andere ist.

In der Gegenwart von Menschen, die am Ziel ihrer Reise angelangt sind und mit der Begleitung Gottes beschenkt wurden, wird Wert auf ein von Selbstbeherrschung getöntes Schweigen gelegt. In diesem Schweigen von Menschen des Herzens, die die wahrhaft Würdigen und Kostbaren unter ihren Mitmenschen zu erkennen vermögen, schwingt großer Respekt mit, einerseits vor den Herzen, in die die Inspirationen Gottes einströmen, und andererseits vor dem Einen, der diesen Herzen Zufriedenheit schenkt. So schweigen sie also, wo zu schweigen angebracht ist, und bereiten den Brisen der Inspiration einen fruchtbaren Boden. Sie richten einen Tisch her, jedoch nicht für die Gunstbeweise dieser Welt, sondern für die ewig frischen Früchte des Paradieses. Es kommt vor, dass Themen, die erörtert werden, so tiefschürfend sind und den Horizont unseres Auffassungsvermögens so weit übersteigen, dass nicht nur wir selbst schweigen sollten, sondern dass wir andere, die bei uns sind, auffordern sollten, ebenfalls zu schweigen. Geflügelte Worte wie „Nicht nötig, unser Anliegen zu präsentieren, denn unser Zustand sagt schon alles“ und das stille Gebet „Schau nur, in welch elendem Zustand wir uns befinden, da lass uns nicht allein“ sind die Stimmen eines solchen Schweigens. Dschelaleddin Rumi lädt mit folgenden Worten dazu ein:

Schau auf mein fahles Antlitz, aber sag mir nichts dazu!

Sieh dir meine zahllosen Leiden an, aber – um der Liebe Gottes willen –

sag mir nichts dazu!

Schau auf mein Herz, so reich an Blut,

und meine Tränen fließen dahin wie ein Strom!

Doch vergiss, was du dort siehst, und frag nicht wie und warum.

Gewöhnliche Menschen hüten ihre Zunge und schweigen nur körperlich, während diejenigen, die ein gewisses Maß an Gotteserkenntnis besitzen, sowohl ihre Zunge als auch ihr Herz hüten und sich in ihrem Schweigen auf diese Weise selbst kontrollieren. Was die Gottliebenden betrifft, so verschließen sie ihre Liebe und Sehnsucht in ihrem Innern und bieten das Schweigen der Ergebenheit dar. Diejenigen, die zur ersten der drei Gruppen zählen, bewahren sich selbst vor den Fehltritten des Sprechens und somit auch davor, getadelt und gemaßregelt zu werden. Die Angehörigen der zweiten Gruppe empfangen – zusätzlich zu dem, was das Schweigen ihnen an sich schon bringen mag – die spirituellen Geschenke, die mit Reflexion und Selbstkontrolle einhergehen. Über die dritte Gruppe heißt es im folgenden Verspaar:

Du sagst, du seist ein Liebender, dann klage auch nicht, wenn die Liebe dich quält!

Lass andere nicht dadurch an deinen Qualen teilhaben, dass du klagst!

So bewahren sie im Schweigen ihre Geheimnisse und präsentieren sich nach außen hin als ein Muster an tiefer Ergebenheit.

O Gott, lass uns zu Deinen Dienern gehören, die aufrichtig im Glauben und Praktizieren des Islams sind, und zu denen, die Du besonders mit Aufrichtigkeit gesegnet hast. Dein Segen und Frieden sei auf unserem Meister Muhammad, dem Vordersten derer, denen Du Aufrichtigkeit geschenkt hast, und auf dessen Familie und Gefährten, die Dich lieben und von Dir geliebt werden.

Anmerkungen

  1. Bukhari, Adab, 31; Muslim, Iman, 74.

2. Al-Ghazali, Ihya‘ Ulum ad-Din, 1:3; 2:228.

3. At-Tabarani, Al-Mu’dscham al-Awsat, 2:370; Bayhaqi, Schu’ab al-Iman, 4:257.

4. Scheich al-Islam Yahya Efendi (1553 – 1644) war einer der bedeutendsten Schuyuch al-Islam im Osmanischen Reich. Das Ministerium des Scheich al-Islam war das höchste Ministerium für religi se Angelegenheiten. Yahya Efendi war außerdem auch ein berühmter Dichter. [Anm. d. Übers.]

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