Ein drittes Auge gefällig?

Seit den Zeiten von Kopernikus gehen die Naturphilosophen im Allgemeinen davon aus, dass es eine reale, physische Welt gibt, die bereits vor dem menschlichen Geist existierte und von diesem unabhängig ist. So haben sie es sich zur Aufgabe gemacht, hinter den ‚Schleier‘ der subjektiven Eindrücke von dieser externen ‚objektiven‘ Welt zu schauen. Dementsprechend ist ihrer Ansicht nach für subjektive Wahrnehmung in der realen Welt kein Platz.1 Das Problem ist nur: Man nimmt zwar an, dass die Quellen der Wahrnehmung objektiv und für jeden verfügbar sind; die Wahrnehmung selbst ist aber immer nur der einen Person zugänglich, die sie gerade hat. Und so ist es fast unmöglich, eine klare Grenze zu ziehen zwischen objektiver und subjektiver Wahrnehmung.

Der amerikanische Forscher Daryl S. Paulson plädiert dafür, den Menschen mehr als eine Sphäre zuzuerkennen. Er argumentiert, die Reduzierung auf eine einzige entweder objektive oder subjektive Sphäre sei fragwürdig: „Dies wurde von Viktor Frank2 anhand eines dreidimensionalen Modells demonstriert. Im dreidimensionalen Raum ist ein Zylinder ein Zylinder – er besteht aus rechteckigen und runden Komponenten. Bildet man denselben Zylinder aber im zweidimensionalen Raum ab, dann stellt er sich entweder als Kreis oder als Rechteck dar. Das eine muss richtig sein, das andere falsch. Wenn im Leben die Dinge auf die objektive Sphäre reduziert werden, so folgt daraus zwangsläufig, dass Bewusstsein, Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen als rein biochemische Reaktionen eingestuft werden. Das heißt: Den Gesetzen der Naturwissenschaften (Physik, Biologie und Biochemie) zufolge können bewusste Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen gar nicht existieren, was sie jedoch in der Realität sehr wohl tun. Umgekehrt reduzieren viele postmoderne Philosophen beide Sphären, die subjektive und die objektive, auf eine einzige kulturelle Sphäre gemeinsamer Bedeutung. Dieser Sichtweise zufolge ist die Welt, in der wir leben, in jeder Hinsicht relativ.“

Indem wir über unsere Sinneswahrnehmungen empirisches Wissen sammeln, entwickeln wir unsere
individuelle Sicht auf das farbenprächtige Antlitz der Schöpfung. Der permanente Fluss von Bildern und Wahrnehmungen vermisst die Außenwelt im menschlichen Geist entlang zweier Achsen, einer subjektiven und einer objektiven. Dieser Vermessungsprozess bewirkt, dass jedes der Individuen auf Erden in seiner eigenen Welt lebt. Ein Beispiel: Ein verzweifelter, sorgenvoller, und überempfindlicher Mensch sieht überall nur Leid, Kummer und Sorge, während ein fröhlicher, optimistischer, und heiterer Mensch das ganze Universum als faszinierend und freudenreich empfindet.

Nehmen wird diese Subjektivität also einmal etwas genauer unter die Lupe. Offensichtlich können man die subjektive Wahrnehmung beispielweise dazu nutzen, seinen Glauben an die Existenz Gottes zu stärken, sich darum zu bemühen, jedes Lebewesen als ein Mitglied der großen Gemeinschaft dieses Glaubens zu betrachten, und seinen Schöpfer anzubeten und zu verehren. Ein Mensch, der nachdenkt und Gott verehrt, vermag zumindest in gewissem Maße zu erkennen, was für ihn ganz sicher real ist: dass nämlich alle existierenden Wesen Gott loben und preisen. Einem Mensch hingegen, der die Anbetung Gottes vernachlässigt oder völlig unterlässt, erscheinen dieselben Wesen passiv und untätig. Er hält sie für bloße Spielbälle des Zufalls, diesem ganz und gar ausgeliefert.

Wenn man in diesem irdischen Leben Freude und Glück erfahren möchten, sollten man sich nicht scheuen, gelegentlich subjektiv zu sein. Zwar hat das Sein offensichtlich auch ein dunkles und hässliches Gesicht, aber letztlich kann man sagen, dass alles aus der Schönheit Gottes hervorgegangen ist und irgendwann zu dieser Quelle wieder zurückkehren wird. Auch wenn es manchem schwerfallen mag, die ganze Tragweite dieser Tatsache zu begreifen, sollte doch jeder versuchen, stets auf die leuchtende, positive Seite des Lebens zu schauen. Dies unterstreicht auch der berühmte muslimische Denker Said Nursi: „Diejenigen, die immer die positive Seite der Dinge im Blick haben, denken über das Gute nach. Und diejenigen, die über das Gute nachdenken, erfreuen sich des Lebens.“

Die Augen sind die Fenster, durch die unsere Seele in die Außenwelt hinaus schaut. Wohin man diese Fenster öffnet, sollte man sich daher sehr genau überlegen. Welche Resultate uns unsere Denkprozesse liefern, hängt sehr stark davon ab, mit welchen Informationen wir unseren Verstand füttern. Alles, was existiert, ist entweder in sich selbst schön oder aber in den Resultaten, die es hervorbringt. Deshalb sollte jeder, der das Universum erforscht, seine Fühler stets zur schönen Seite des Seins hin ausstrecken. Wir alle sollten versuchen, diese spezielle subjektive Wahrnehmung des Universums zu verinnerlichen. Demgegenüber dürfen wir uns durchaus eingestehen, dass wir in vielen Fällen nicht dazu in der Lage sind, die objektive Schönheit des Universums zu erkennen.

Wir alle sind Menschen, und wir alle haben unsere ganz persönlichen Schwächen. Einige davon sind fest in unserer Natur verankert. Sie lassen sich folgenden Oberbegriffen zuordnen: weltlicher Ehrgeiz (der dazu führen kann, dass man den Schöpfer vergisst), Gier, Angst (die uns dazu verleiten kann, unsere Ehre und Integrität zu opfern), Rassismus, Nationalismus (der die Rechte anderer Nationen bedroht) und Selbstsucht. Hinter diesen Schwächen steht vor allem der Gedanke oder das Gefühl, dass das irdische Leben niemals enden wird – ein Gedanke, der ebenfalls absolut subjektiv ist. Niemand von uns zieht in Erwägung, dass er selbst irgendwann sterben wird; sterblich sind immer nur die anderen. Wir sehen die Berge, und sie erscheinen uns unverwüstlich, im wahrsten Sinne des Wortes felsenfest. Wir sehen unsere nähere Umgebung, und auch sie erscheint uns dauerhaft und beständig. Diese Beobachtungen verführen uns zu der Annahme, auch wir selbst seien keinen Veränderungen unterworfen. Hier haben wir es also mit einer trügerischenSubjektivität zu tun, einer subjektiven Wahrnehmung, die unsere persönliche Integrität bedroht und die Gesellschaft korrumpiert. Wer das Universum erforscht, sollte die ,giftigeSüße’ dieser Subjektivität mit der Bitterkeit des Nachdenkens über den Tod vertreiben. Denn die Realität des Todes ist so lebendig, dass sie nicht geleugnet werden kann.

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