Buchrezension: Auf Zeit. Für immer

„Ich kannte niemanden, als ich in Frankfurt ankam. Aber am Bahnhof trafen sich immer die Türken. Das hatte ich gehört. Ich lief also durch den Bahnhof, um einen Landsmann zu finden, der möglicherweise helfen könnte. Ich wusste nicht, wo ich schlafen sollte; (…)Die erste Nacht verbrachte ich zusammengekauert in einem Einkaufswagen, den ich in einer Ecke im Bahnhof gefunden hatte.“

So beschreibt der damals 20 Jährige Mesut Ergün seine erste Nacht in Frankfurt am Main.

Es ist einer der vielen interessanten Lebensgeschichten die man in dem Buch „Auf Zeit. Für immer. Zuwanderer aus der Türkei erinnern sich“ findet. Es wurde zum 50. Jährigen Jubiläum des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei vom 31.Oktober 1961, mit Unterstützung des „KulturForums-TürkeiDeutschland“ bei Kiepenheuer und Witsch herausgegeben.

Wie der Titel verrät haben es sich die Herausgeber Jeannette Goddar und Dorte Huneke zur Aufgabe gemacht in Reportagen, Interviews und biografischen Berichten nachzuzeichnen was die Migranten die zuerst „auf Zeit“ nach Deutschland kamen, aber dann auch „für immer“ blieben, „dachten und fühlten“, wovon sie „träumten“ und worauf sie „hofften“ und ferner wie sie „empfangen wurden“. Der Leser bekommt so einen Einblick nicht nur in die Schicksale der ersten Generation der Migranten, sondern auch einen zeitgeschichtlichen Überblick zur Situation in Deutschland und der Türkei.

Obgleich der o.g. Anspruch vertreten wird und zum großen Teil auch gerecht wird, liest sich das Buch, aufgrund der Auswahl der Interviewpartner und ihrer Herkunft, eher wie ein Pamphlet der türkischen Minderheiten in Deutschland und ihrer „Schicksale“ im Hintergrund der sozio-politischen Umstände in der historischen Retrospektive, mehr als wie ein Beitrag zur deutsch-türkischen Geschichte.

Durch die Darstellung der Lebensgeschichten der kurdisch-, armenisch-, und griechischstämmigen Minderheit, die ohne Zweifel auch ein Teil der Türkei und seiner Geschichte sind, aber alleine nicht die große Mehrheit der türkischen Einwanderer in der Bundesrepublik repräsentieren, wird dem Leser ein verzerrtes Bild der Alltagskultur und Lebensumstände der Einwanderer aus der Türkei präsentiert. Auch die Darstellung der zweiten Generation, die mittlerweile die Elterngeneration der dritten ist, kommt zu kurz.

Trotz der Mängel der historischen Aufarbeitung, schaffen es die persönlichen Darstellungen der Interviewer den Leser in die Zeit und ihre Verhältnisse zu bringen und so ein Stück Zeitgeschichte nachzuzeichnen. Ob es nun die hoffnungsvolle Bewerbung, die strapazierende Anreise oder die späteren Lebenssituationen in Deutschland sind – das Geschilderte regt den Leser zum Staunen, Nachdenken und meist auch zum Schmunzeln an. Saliha Cukur beschreibt den Sprachtest und ihre anschließende Freude über die Zusage im Anwerbebüro in Istanbul:

„Ich habe meine drei Zeilen vorgelesen, dann haben sie gesagt: „Du kannst gehen. Du bekommst die Papiere. Warte draußen.“ Ich konnte mein Glück nicht fassen. Nach Deutschland – ich! Herrje, ich war so jung! Und so unerfahren.“

„Mein Gott, ich habe für Deutschland meine Heimat aufgegeben, nun ist das hier meine Heimat! “

Salih Gültekin erinnert sich an seine ersten Arbeitstage im Fordwerk in Köln:

„Als wir mit dem Zug aus München in Köln ankamen, war es mitten in der Nacht. Das Deutsch Rote Kreuz war da, sie haben alles vorbereitet. Ein Mann hat unsere Namen von einer Liste abgelesen. Morgens mussten wir um vier Uhr aufstehen. Duschen, rasieren, anziehen. Der Bus wartete draußen. Um sechs Uhr ging die Arbeit los.“

Zum Schmunzeln ist z.B. Sokrates Saroglu Anekdote, als er in einer Berliner Metzgerei Fleisch kaufen wollte, und auf Verständnisschwierigkeiten traf. In einem „wortlosen“ Dialog versuchte er eine Lammkeule zu kaufen, als die Verkäuferin ein Stück Schweinefleisch in die Hand nahm und grunzte. Saroglu erwiderte ihr ein „Määääh“, als Zeichen für das Lammfleich. Am Ende des wortlosen Dialogs ging der gebürtige und stolze Istanbuler zwar mit dem gewünschten Fleisch, dafür aber gedemütigt nach Hause und beschloss schnellstens Deutsch zu lernen. Mahir Zeytinoglu, der seit fast drei Jahrzehnten erfolgreich ein Hotel im Münchener Herzen führt erklärt seinen seinen beruflichen Werdegang, seinen Heimweh und den kulturellen Gewinn für Deutschland folgendermaßen:

„In den Jahren darauf habe ich den Deutschen erst einmal unser Essen, vor allem unsere türkischen Vorspeisen, nahegebracht. Welche Bereicherung die südländische Küche für Deutschland ist, daran denkt ja heute kein Mensch mehr! Als ich 1973 kam, gab es keinen Schafskäse, keine Oliven, nicht einmal Frühlingszwiebeln oder Auberginen.“ (…) „Sehen Sie, heute habe ich mal eben von meinem Handy meine Mutter angerufen, was hätten wir damals dafür gegeben! Stattdessen haben wir oft den ganzen Tag an der Post gegenüber dem Hauptbahnhof angestanden, um für viel Geld und wenige Minuten eine vertraute Stimme in der Leitung zu haben.“

Es gibt noch mehr dieser Erlebnisse, die einen Blick auf die menschliche Dimension der Sarrazin-Debatte gewähren. Nämlich auf die Schicksale von Menschen, die ihr zu Hause aus welchen Gründen auch immer, verlassen mussten und in Deutschland ein neues suchten. Die Worte von Mahir Zeytinoglu fassen die deutsch-türkische Migrationsgeschichte sehr gut zusammen:

„Ich hatte mir das genau ausgerechnet. In drei bis vier Jahren wollte ich genug Geld beisammen haben, um mir in meiner Heimatstadt in Kappadokien eine Existenz aufzubauen – mit einem Ford Transit und hundert Lämmern”,

und fügt nach 40 Jahren hinzu:

„Mein Gott, ich habe für Deutschland meine Heimat aufgegeben, nun ist das hier meine Heimat! Ich habe vier Geschäfte in München eröffnet – und drei bayerische Töchter.“

Wie der Titel schon verrät: Einige kamen auf Zeit und blieben für immer.

 

 

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